Die Tochter des Schmieds
sie sich sagen, natürlich hat ihn das verletzt. Ich hätte einfach warten sollen. Es war eine Sache zwischen ihm
und mir.
Aber das ist später, viel später. Jetzt steht sie da und wartet. Als könnte ein Zauberer kommen und die richtigen Worte sagen,
und sie würde sich nicht mehr so versteinert fühlen wie in einem Märchen.
Die Zeit dehnt sich, Fuats Schritte sind längst verklungen, und je mehr sich die Sekunden dehnen, desto mehr Gedanken passen
hinein, jagen sich und lassen Gül keine Zeit, sich zu bewegen. Er kann es also. Er ist dazu fähig. Wann wird das nächste Mal
sein? Ihr Vater hat sie nie geschlagen. Aber Melike schon. Und Emin auch. Und manchmal auch Nalan. Und sie selbst hat mal
einen Stein nach Melike geworfen. Aber da war sie noch klein. Ihr Vater hat seine Frauen nie geschlagen. Fuat kann es.
– Das kann passieren, sind die Worte, die erlösenden Klang in den stillen Raum bringen.
Es sind nicht die Worte, die Gül gebraucht hat, sie brauchte nur den Schall, ein Zeichen, daß sie sich wieder bewegen kann.
Das kann passieren, war ebenso gut oder schlecht wie: Ich werde mit ihm reden. Oder: Du hast ihn provoziert.
|284| – Ja, sagt Gül einfach nur, schließt die Schranktür, flüstert gute Nacht und geht ins Bett, zieht die Knie ans Kinn, verkriecht
sich unter der Decke und hofft, daß Fuat diese Nacht lange ausbleibt. Lange.
Nach der Ohrfeige spricht Gül vierzehn Tage kein Wort mit Fuat. Er scheint es zu bereuen, zumindest kommt es Gül so vor, aber
er bringt nur eine winzige Entschuldigung hervor. Und auch die nur beiläufig, eines Morgens, als er gerade das Haus verlassen
will. Schon auf der Schwelle, dreht er sich noch mal um:
– Das wollte ich nicht.
Es weht ein kühler Wind zwischen Fuat und Gül. Als Fuat drei Wochen später nachts heimkommt und sie zum ersten Mal seit der
Ohrfeige wachrüttelt, dreht sie sich demonstrativ weg, und er wartet, bis er glaubt, sie wäre eingeschlafen, dann hilft er
sich selbst.
Doch der Sommer und Güls verhaltene Freude über ihr Grundschuldiplom wärmen diesen Wind. Man gewöhnt sich an alles, und als
sie sich das nächste Mal streiten, dreht sich Gül schon nach zwei Wochen nachts nicht mehr weg.
Der nächste Streit fängt damit an, daß Fuat sagt:
– Savaş ist im gleichen Zug gefahren wie Melike.
– Ja, Melike ist mit dem Zug gekommen.
– Sie hat sich zusammen mit Männern in ein Abteil gesetzt.
– Und?
– Findest du das richtig, daß deine Schwester mit fremden Männern in einem Abteil sitzt?
– Wahrscheinlich waren das keine Fremden, sondern Schulfreunde.
– Aber was werden die Leute sagen?
– Welche Leute? Muß dein geschwätziger Freund es herumerzählen?
– Sie ist deine Schwester, du solltest ihr verbieten, mit Männern im Abteil zu sitzen.
|285| – Was? Was soll schon sein, wenn sie mit Männern im Abteil sitzt?
Gül weiß, daß es wegen so etwas Gerede geben kann, aber was soll schon passiert sein?
– Du hältst zu deiner Schwester, nicht wahr, du hältst zu ihr, weil sie deine Schwester ist. Du bist egoistisch, dich interessiert
nicht, was die Leute reden.
– Sie ist alt genug. Sie wird bald eine Studierte sein, da wird sie schon wissen, was gut für sie ist und was nicht.
– Ich meine ja nur. Ich wollte helfen, aber du hältst ja immer zu deinen Schwestern, egal ob Melike oder Sibel. Sie werden
sagen, Melike sei ein leichtes Mädchen, eine freie Tochter, aber das ist mir egal.
– Was sollen sie getan haben im Abteil? fragt Gül. Vor all diesen fremden Menschen, die auch noch im Zug sind. Weißt du, was
sie getan haben? Sie haben geraucht. Das war das Schlimmste, was sie getan haben. Meine Schwester raucht. Und wenn du willst,
daß sie deswegen Ärger bekommt, dann geh hin, und erzähl es meinem Vater.
– Sie wird zum Tratsch werden, du wirst sehen.
Melike wird nicht zum Tratsch. Sie versteckt sich im Sommer zum Rauchen in der hintersten Ecke des Gartens. Meistens setzt
sie sich hin, weil ihr beim Rauchen manchmal noch schwindelig wird. Ab und zu nimmt sie Gül mit und nötigt ihre Schwester,
auch zu rauchen. Gül findet das amüsant, weil es eigentlich die Älteren sind, die die Jüngeren zum Rauchen verführen. Die
Zigaretten hinterlassen einen dunklen, trockenen Geschmack im Mund, auch Gül wird schwindelig, und sie kann den Hustenreiz
nicht unterdrücken.
– Teufelswerk, wird sie später sagen, nachdem sie sich das Rauchen angewöhnt hat, Teufelswerk,
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