Die Tochter des Schmieds
Ich will ihr ein letztes Mal die Brust geben.
Hülya sah ihrer Schwägerin in die Augen, und sie hätte gern beschwichtigt, sie hätte gern gesagt: Du wirst ihr noch oft die
Brust geben. Und sie hätte gern gelacht dabei. Fatma war immer noch schön wie ein Stück vom Mond, auch wenn ihre Wangen eingefallen
waren, doch ihre Augen schienen gerade nach innen zu schauen, in eine Dunkelheit länger als die Schatten der Abendsonne. Dann
kehrte sich ihr Blick wieder nach außen, sie lächelte, holte ihre kleine Brust hervor und ließ Sibel saugen. Gül hatte immer
noch Angst, ihre Mutter hatte die Welt kleiner gemacht, aber es hatte nicht geholfen.
Am nächsten Tag konnte auch Fatma nicht aufstehen, das Fieber hatte sie gepackt und der Nebel sie eingehüllt, aber sie bekam
mit, daß ihre Schwiegermutter sich sehr viel mehr um ihren Sohn kümmerte als um sie. Was konnte sie schon dagegen tun, daß
sie in ihren durchgeschwitzten Sachen liegenblieb, daß sie nicht alle paar Stunden frische Laken bekam, daß ihr nicht mehr
als eine halbe Tasse Brühe in den Mund gelöffelt wurde, weil sie so langsam schluckte. Was sollte sie dagegen tun, daß sich
auch in den nächsten Tagen kaum etwas daran änderte. Sie lag neben ihrem Mann, dem es von Tag zu Tag besser ging. Er konnte
schon aufstehen und ein paar Schritte laufen, während sie in Fieberträumen dalag und zu fast nichts mehr in der Lage war.
In einem klaren Moment sagte sie:
|53| – Timur, laß mich ins Krankenhaus bringen. Deine Mutter pflegt mich nicht wie dich, und ich habe sonst niemanden. Laß mich
bitte ins Krankenhaus bringen, es geht mir sehr schlecht. Du kannst dann schneller gesund werden, deine Mutter kann sich noch
besser um dich kümmern, und dann kommst du und holst mich aus dem Krankenhaus und pflegst mich gesund. Timur, ich flehe dich
an, wenn du deinen Gott liebst, laß mich ins Krankenhaus bringen. Es geht mir schlecht … Ich habe Angst.
Timur küßte sie auf die Stirn und nickte.
Sibel weinte in der ersten Nacht in dem fremden Haus durch. Yücel, der am nächsten Morgen wieder arbeiten mußte, trug sie
auf dem Arm im ganzen Haus hin und her, wiegte sie, legte seine Hand auf ihren Rücken und summte ihr Lieder vor, um sie zu
beruhigen. Melike machte in dieser Nacht dreimal ins Bett, und Hülya, die ebenfalls nicht schlafen konnte, wechselte dreimal
die Bettwäsche, während Gül dalag und wenigstens so tat, als würde sie schlafen. Sie mochte ihre Tante und ihren Onkel, der
ein stiller Mann war und meistens sehr ernst wirkte.
Frühmorgens brachte Hülya Sibel zu ihrer Mutter, damit Fatma ihr wenigstens einmal am Tag die Brust geben konnte, und Hülya
sagte jedes Mal: Siehst du, es wird noch viele Male geben. Doch es kam kaum noch Milch aus Fatmas Brüsten.
Die Schwestern waren schon einige Tage bei ihrer Tante, als Yücel zum Freitagsgebet in die Moschee ging.
– Komm her, sagte Hülya zu Gül, du weißt, wie man sich vor dem Gebet wäscht, oder?
Gül nickte, ihre Mutter hatte es ihr beigebracht, also nahmen sie gemeinsam die rituelle Waschung vor und beteten anschließend.
Noch während sie beteten, kam Melike ins Zimmer, und obwohl sie wußte, daß man nicht stören durfte, sagte sie:
– Guckt mal, ich kann den Purzelbaum jetzt auch rückwärts.
|54| Gül versuchte unbeirrt weiterzumachen wie Tante Hülya, doch Melikes Gehampel lenkte sie ab, und sie zischte: Verschwinde.
Aber das reizte Melike nur noch mehr, Kunststücke vorzuführen. Auch nach dem Gebet ermahnte Tante Hülya Melike nicht, sie
tat so, als hätte sie nichts bemerkt. Sie zog sich ein anderes Kleid an, nahm Sibel auf den Arm und trug Gül auf, Melikes
Hand nicht loszulassen.
– Wir fahren zur Oma.
Fatma sollte an diesem Tag ins Krankenhaus gebracht werden, Onkel Yücel war schon bei Zeliha, ebenso wie einige Nachbarn und
Freunde der Familie. Es waren so viele Menschen dort, daß Gül ganz verwirrt war und vergaß, auf Melike aufzupassen, die herumlief
und versuchte, jemand zum Spielen zu finden. Gül wußte, in welchem Zimmer ihre Mutter lag, doch sie traute sich nicht hinein.
Schließlich brachte Zeliha Fatma aus dem Zimmer, die Kutsche wartete schon draußen, und Gül sagte nur: Mama, als sie ihre
Mutter erblickte. Fatma lächelte und sagte:
– Gül, meine Rose.
Dann küßte sie ihre Kinder alle noch mal und bat die versammelten Menschen mit brüchiger Stimme:
– Freunde, vergebt mir, wenn ich mich an euch
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