Die Tochter des Schmieds
versündigt habe.
Gül verstand nicht, was das hieß, aber sie begriff, daß es nichts Gutes bedeuten konnte. Sie verstand so vieles nicht. Erst
machte ihre Mutter die Welt kleiner mit ihren Worten, aber es half nicht, und jetzt sagte sie ein paar Worte, die die Welt
wieder größer machten, so groß, daß sie nicht wußte, wohin sie sollte. Die Welt wurde so riesig, daß Gül einfach stehenblieb.
Sie blieb auch einfach stehen, als sie sieben Tage später ihre Mutter im Krankenhaus besuchten. Sieben Tage lang war Hülya
jeden Morgen mit Sibel ins Krankenhaus gefahren, sieben Tage lang hatte Melike jede Nacht ins Bett gemacht, sieben Tage lang
hatte Sibel halbe Nächte auf dem Arm ihrer Tante geschrien, ohne daß diese die Geduld verloren |55| hatte, sieben Tage lang hatte Onkel Yücel Sibel stundenlang auf seinen Füßen geschaukelt, wie es Brauch war. Er hatte sich
mit ausgestreckten Beinen hingesetzt, ein Kissen auf seine Füße gelegt und Sibel auf das Kissen und hatte die Kleine mit sanften
Bewegungen hin und her gewiegt, um sie zu beruhigen. Sieben Tage, in denen es dem Schmied jeden Morgen etwas besser ging.
Er konnte schon wieder alleine essen, er konnte einige Schritte gehen, langsam fand er seine Kräfte wieder. Dreimal hatte
er seine Frau schon besuchen können, und bald würde das alles hier überstanden sein. Bald würden sie ins Dorf zurückkehren
und wieder eine Familie mit einem Haus sein, bald würde er wieder in der Schmiede stehen und die schweren Hämmer in der Hand
halten, bald würde er wieder auf seinen Pferden reiten können, bald, sehr bald.
Sieben Tage, es war wieder Freitag, Tante Hülya nahm gemeinsam mit Gül die rituellen Waschungen vor, und auch Melike machte
dieses Mal mit, ahmte hinterher die Bewegungen beim Gebet nach und kicherte dabei, ohne Aufmerksamkeit erregen zu können.
Onkel Yücel, Tante Hülya, Sibel, Melike und Gül fuhren dann gemeinsam ins Krankenhaus, wo Zeliha und Timur schon warteten.
Gül erschrak, als sie ihre Mutter sah. Fatma hatte violette Ringe um die Augen, es war eine fast grelle Farbe, wie der Spiritus,
den sie zu Hause in Schnapsflaschen aufbewahrten. Als hätte man Flieder ein dunkles Grün beigemischt und es dann zum Leuchten
gebracht.
– Geht nicht zu nah heran, zischte Zeliha Melike und Gül zu, es ist eine ansteckende Krankheit.
Doch Melike hörte nicht darauf, sie kletterte auf die Bettkante und blieb dann einfach dort sitzen.
Die Augen ihrer Mutter verschwanden fast in diesen Ringen, und sie sahen traurig aus, fand Gül, traurig und gleichzeitig so,
als versuchten sie etwas festzuhalten. Sie wartete, daß jemand Melike von der Bettkante verjagen würde, doch niemand sagte
etwas. Gül wollte ein braves Mädchen sein, |56| also blieb sie stehen, sie stand die ganze Zeit, die sie im Krankenzimmer waren, auf dem gleichen Fleck, ohne sich zu bewegen,
und niemandem schien es aufzufallen.
Da Timur fast wieder gesund war, gingen Gül und Melike mit zu ihrer Großmutter. Sibel sollte noch einige Tage bei ihrer Tante
bleiben. Abends konnte Gül nicht einschlafen, und sie wollte zu Melike ins Bett, doch die wachte auf, als ihre Schwester unter
die Decke kroch, und sagte nur: Geh weg.
Gül ging zu ihrem Vater.
– Was ist denn, mein Mädchen? fragte er.
– Ich kann nicht schlafen.
– Geh doch zu Oma, ich wälze mich sowieso nur herum.
Und Gül ging in das Zimmer ihrer Großmutter, und diestöhnte kurz auf, aber nahm sie dann mit in ihr Bett. Gül hatte ständig
das Bild vor Augen, wie sie im Krankenzimmer in der Ecke gestanden hatte und wie elend ihre Mutter ausgesehen hatte. Es dauerte
sehr lange, bis sie endlich einschlief, und mitten in der Nacht wachte sie auf, weil ihre Großmutter schnarchte. Sie rückte
ab von Zelihas Körper und schloß die Augen und wartete, bis die Bilder endlich verschwanden, bis die Dunkelheit kam und sie
mitnahm.
Eigentlich gab es nur im Winter Suppe zum Frühstück, eine wärmende Suppe, die einem Kraft gab für den Tag, eine dicke Linsen-,
Yoghurt- oder Pansensuppe. Da Timur dabei war, wieder zu Kräften zu gelangen, gab es am nächsten Morgen eine Rinderbrühe.
Melike, Zeliha, Timur und Gül saßen schon auf dem Boden, wo das Essenstuch ausgebreitet lag, auf dem der dampfende Topf stand,
das Brot, die Teller, der Käse und die Oliven. Zeliha füllte die Suppe auf, und schließlich hatten alle einen Teller, aber
Timur hatte keinen Löffel.
– Geh, lauf, hol
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