Die Tochter des Schmieds
in Istanbul zu sein, in Rom oder New York. Eines Tages will auch sie in einer großen Stadt
wohnen, reich sein und solche Frisuren tragen wie die Frauen in den Filmen. Ihr Filmbuch ist ein Tagebuch wie jedes andere
auch. Es soll das Leben festhalten, weil man sich nach etwas sehnt.
Sibel hat nach den ersten Kinobesuchen Alpträume, doch sie begleitet ihre Schwestern trotzdem weiter, und bald schon fängt
sie an, aus dem Gedächtnis Filmszenen nachzuzeichnen. Bereitwillig und stolz gibt sie diese Zeichnungen Melike, die sie ihrem
Buch beilegt.
|179| Die Schwestern gewöhnen sich schnell daran, mit ihrem Vater regelmäßig ins Kino zu gehen. Selbst wenn sie im Sommerhaus sind
und es ein ausgiebiger Spaziergang dorthin ist, läßt Timur sich nie bitten. Arzu geht selten mit, ihr behagt es nicht, so
lange stillzusitzen, außerdem behauptet sie, nach dem Kino immer schlecht zu schlafen.
Es gibt mehr als einen Film, in dem Kinder im Alter von zwölf, vierzehn Jahren herausfinden, daß ihre Eltern nicht ihre richtigen
Eltern sind. Die Adoptiveltern sind reich, während die echten Eltern arm sind, doch die Kinder wollen zurück. In einem Film
erfährt ein Dienstmädchen, daß der Herr des Hauses in Wirklichkeit ihr Vater ist. In einem anderen findet ein Junge im Schrank
seines Vaters einen Brief an seine Stiefmutter. Geliebte, heißt es da, Geliebte, mach dir keine Sorgen wegen des Jungen, wenn
wir meine Frau erst mal los sind, schicken wir ihn einfach auf ein Internat, dann steht unserem Glück nichts mehr im Weg.
Das alles bleibt Gül im Gedächtnis, aber nichts beeindruckt sie so sehr wie die Szene, wo ein junger Mann am Sterbebett seiner
Mutter sitzt und sie ihn um ein Glas Wasser bittet. Als der Mann zurückkommt, ist sie tot. Gül ist vierzehn, und sie weiß,
daß die Frau ihren Sohn rausgeschickt hat, weil sie wußte, daß der Tod schon da ist, weil sie allein sein wollte mit ihm.
Ich würde mein Kind nicht fortschicken, denkt Gül.
Einige Tage vor Neujahr sitzen Gül und Melike mit ihrem Vater im Kino, das beheizt wird, indem man in einem eigens dafür gemachten
Ofen Sägespäne zum Glimmen bringt, Kohlen oder Holz wären zu teuer. Die drei sitzen im beheizten Kino und sehen Spartakus.
Gül wird sich ihr Leben lang an die Sequenz erinnern, wo die Römer die Sklaven gefangen haben und nun wissen wollen, wer von
ihnen Spartakus ist. Sie drohen, jeden umzubringen, wenn sie ihren Anführer nicht preisgeben. Kirk Douglas steht auf und sagt:
Ich bin Spartakus. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hat, steht einer nach dem anderen auf und behauptet ebenfalls: Ich
bin Spartakus. Die Römer sind verwirrt.
|180| Als der Film zu Ende ist, sitzt Timur nicht neben seinen Töchtern.
– Er wartet sicherlich draußen auf uns, sagt Melike, und die Schwestern gehen zum Ausgang. Im Gedränge verlieren sie sich
aus den Augen, und auf einmal steht Recep neben Gül. Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Gül sieht ihn an, kurz, ganz
kurz nur haben sie Augenkontakt, dann blickt Gül hastig weg. Ihr Herz rast, sie versucht, sich schneller in Richtung Ausgang
zu schieben.
– Der Brief? fragt Recep flüsternd. Sie kann seinen Atem an ihrem Ohr spüren. Und sie antwortet nicht. Sie kann nicht. Sie
kann nicht reden, sie kann nicht flüstern, sie kann nicht denken, sie kann nicht mal wirklich gehen, die Menge hilft ihr auf
dem Weg hinaus. Gül spürt, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wird, und sie läßt es geschehen. Kurz darauf ist sie draußen,
es ist bitterkalt, sie wagt nicht, den Kopf zu drehen, aber sie spürt, daß Recep nicht mehr neben ihr ist. Sie schließt ihre
Hand fest um das klein zusammengefaltete Papier. Diesen Brief wird sie lesen, sie wird einen Weg finden, bald schon, schon
bald. Dieses Mal wird sie sich trauen.
Es ist sehr leicht, ihren Vater zwischen all den Menschen auszumachen, denn er überragt alle anderen. Melike ist bereits bei
ihm, und als Gül die beiden erreicht, hört sie Receps Stimme.
– Onkel Timur, Onkel Timur, schönen guten Abend. Wie geht es Ihnen?
– Gut, mein Sohn, dem Herrn seis gedankt, und wie geht es dir?
– Danke der Nachfrage, mir geht es auch gut.
Recep vermeidet es, Gül oder Melike anzusehen, er schaut mit einem Lächeln zum Schmied, der nur einen halben Kopf größer ist
als er. Eine pomadisierte Strähne fällt ihm in die Stirn.
– Kennen wir uns, mein Sohn? fragt Timur.
– Ja, Onkel Timur, ich bin aus dem Dorf,
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