Die Tochter des Schmieds
Sie waren oft bei uns, haben meiner Mutter Sachen abgekauft. Meine Mutter … Leyla
…
|181| Timur sieht ihn genauer an, doch er scheint sich nicht zu erinnern.
– Recep, sagt Recep nun, Recep, dessen Vater in Istanbul verschwunden ist.
– Ach, ja, sagt Timur, sag, Recep, wie geht es deiner Mutter?
Gül beugt sich hinunter, um ihre Schuhe zuzubinden.
– Gut, sagt Recep, gut, danke der Nachfrage.
Es entsteht eine Pause. Timur fragt:
– Nun, junger Mann, zu welchem Verein hältst du denn?
– Zu Beşiktaş, sagt Recep, weil sie die besten sind.
– So ist es gut, grinst der Schmied.
– Ich will Sie nicht länger aufhalten, sagt Recep. Meine Freunde warten.
Er macht eine Handbewegung in eine Richtung, wo niemand steht, verabschiedet sich höflich und geht. Gül sieht keinen Kamm
aus seiner Hosentasche ragen. Der kleine Brief steckt jetzt in ihrem Gefängnisstrumpf.
Als sie zu Hause sind, holt sie ihn auf dem Klo heraus. Ihre Hände zittern, als sie die Taschenlampe vorsichtig auf den Boden
legt und das Papier herauszieht. Es ist nicht weiß, wie sie erwartet hat, es ist bunt bedruckt. Und als sie es entfaltet,
erkennt sie, daß es dieses Mal kein Brief ist. Es ist ein Lotterielos für die große Neujahrsziehung. Recep hat ihr ein Los
geschenkt. Warum hat er das getan? Und warum freut sie sich so darüber? Sie sieht sich die Losnummer an, als wäre eine Botschaft
darin versteckt. 430512389. Es ist ein Los, das kann sie verstecken und aufbewahren, als Erinnerung. Da kann doch nichts passieren.
Gül kann nicht lächeln, dafür ist sie zu nervös, dafür schlägt ihr Herz immer noch zu schnell, dafür ist ihr Atem immer noch
zu kurz. Sie faltet das Los zusammen und steckt es zurück in den Strumpf.
Recep würde bestimmt als einer der ersten aufstehen und laut rufen: Ich bin Spartakus.
|182| Zu Silvester sitzen wie schon oft viele Menschen beim Schmied zusammen. Alle loben Arzu für ihre gefüllten Weinblätter, mit
denen Gül den ganzen Nachmittag beschäftigt war, für ihr Börek, dessen Teig Gül vormittags geknetet hat und dessen Spinat
sie gewaschen hat, in eiskaltem Wasser, bis sie ihre Hände nicht mehr spürte, sie loben sie für ihr Gebäck, und als Gül nicht
im Zimmer ist, hört sie, wie ihre Mutter sagt:
– Gül hat mir geholfen. Sie ist jetzt eine junge Frau, und sie kann nicht nur gut kochen, sie ist sorgfältig, geschickt und
geschwind.
Sorgfältig, geschickt und geschwind, sorgfältig, geschickt und geschwind, murmelt Gül vor sich hin, als sie neuen Tee aufsetzt.
Es ist voll im Haus, Hülya und Zeliha sind da, ihr Onkel Fuat, ihr Onkel Orhan mit seiner Frau und seinem Kind, Nachbarn mit
ihrer Familie, der Gehilfe des Schmieds, der sonst niemanden hat und nun still und schüchtern in der Ecke sitzt und sich nicht
meldet, als er beim Bingo gewinnt. Gül sieht, daß seine Zahlen gezogen werden, als sie ihm Tee serviert, doch er blickt leer
auf die abgegriffene Bingokarte vor ihm und blinzelt, weil der Rauch seiner Zigarette ihm in die Augen geraten ist.
Jedes Jahr wird zu Silvester Bingo gespielt, jeder Erwachsene bekommt eine Karte, und Melike darf diesmal die Zahlen aus einem
kleinen Säckchen ziehen und laut ausrufen. Die Kinder sitzen bei ihren Eltern oder Lieblingstanten oder -onkeln, und Gül schenkt
Tee ein. Gleich, wenn das Spiel beendet ist, werden sich die Männer und Frauen trennen, die Männer werden im großen Zimmer
sitzen und die Frauen in dem der Mädchen, in das Timur in diesem Winter einen Ofen gesetzt hat. So einen, wie sie ihn im Kino
haben, hat er geschmiedet, weil Sägespäne fast nichts kosten. Und geärgert hat er sich, weil er nicht schon früher darauf
gekommen ist.
Erst gegen elf werden Männer und Frauen sich gemeinsam um das Radio setzen, aus dem Lieder erklingen und gute |183| Wünsche für das neue Jahr und Sketche und schließlich die Ergebnisse der Neujahrsziehung. Gespannt sitzen die, die ein Achtel-,
Viertel- oder gar ein halbes Los haben, dort und halten die Luft an und wünschen sich, als reiche Menschen ins neue Jahr zu
gehen.
Auch Timur kauft jedes Silvester ein Achtellos und ein Viertellos, die Arzu beide vor sich hinlegt, wobei sie etwas murmelt,
um schließlich die Luft anzuhalten, wenn der Sprecher laut und deutlich eine Ziffer nach der anderen nennt, zuerst den dritten
Preis: Vier, drei, null, fünf, eins, zwei, drei, acht und als letztes, als letztes, meine Damen und Herren, als letzte
Weitere Kostenlose Bücher