Die Tochter des Schmieds
unter null ist, denkt Gül fast gar nicht mehr an Recep. Weder auf dem Weg zu Esra, noch auf dem Weg heim, noch abends
im geheizten Zimmer, wo Melike erzählt, wie Sezen fast jeden Morgen Kastanien für sie beide kauft, damit sie sich auf dem
Weg in die Schule die Hände wärmen können. Sie ziehen die Ärmel ihrer Jacken ganz lang und umklammern damit die Kastanien,
um sich die Handflächen nicht zu verbrennen. Auch wenn Sezens Eltern genug Geld haben, es gibt keine kleinen Handschuhe zu
kaufen, und wer will schon als einziger mit selbstgestrickten Handschuhen auf die Straße gehen. Handschuhe sind etwas, das
man bekommt, wenn man erwachsen wird.
Auch Recep hat keine Handschuhe an, als Gül ihn eines Morgens wiedertrifft. Plötzlich ist er da, er muß gerade um die Ecke
gebogen sein, und nun steht er vor ihr. Gül schaut ihn an, ohne Herzklopfen, ohne das geringste Anzeichen von Erregung, sie
ist völlig starr. Recep streckt ihr etwas verlegen seine Hand hin. Zuerst sieht Gül nur seine blassen Finger, den dunklen
Rand unter den Nägeln, die Risse und Furchen. Dann erst bemerkt sie den Briefumschlag, den Recep zwischen Zeige- und Mittelfinger
hält. Noch immer kann sie sich nicht bewegen.
|175| – Nimm, sagt Recep, und Gül streckt zögernd ihre Hand aus. Sobald sie den Brief genommen hat, dreht Recep sich um und läuft
weg.
Jetzt erst kann sie sich wieder bewegen und schaut sich um, ob jemand sie gesehen hat. Als sie sich hastig den Brief unter
das Unterhemd steckt, spürt sie die Kälte des Papiers, das sich schnell erwärmt.
Möglicherweise ist Recep ihr vorher schon mal gefolgt? Dieser Gedanke läßt ihr Herz schneller schlagen, ihr wird warm. Wärmer
als Melike von den Kastanien je werden könnte. Langsam, ganz langsam, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Sie könnte fliegen,
wenn da nur die Freude wäre. Doch da ist noch die Angst, da sind Verwirrung und Staunen, da ist Aufregung, und da sind Fragen,
schwerer als der große Hammer in der Schmiede. Ist das das Gefühl, über das sie manchmal im Radio singen? Das Gefühl, das
die Menschen dazu bringt, betrübte Zeilen zu schreiben.
Ich habe deine Tränen in meiner Tasche gesammelt und sie alle einzeln nachgeweint. Der Tod ist Gottes Befehl, wenn nur die
Trennung nicht wäre. Du bist fort, aber ich stehe noch, ich bin nicht umgefallen. Seit er weg ist, schmeckt nicht mal die
Luft, die ich atme.
Wie kann sie es verstecken, dieses Gefühl, und wie diesen Brief?
Gül bewegt sich den ganzen Vormittag über sehr vorsichtig, damit das Knistern unter ihrem Pullover sie nicht verrät. Sie traut
sich nicht, mit dem Brief auf das kalte Plumpsklo zu gehen, sie traut sich einfach nicht. Esra hat ihr gesagt, daß sie nicht
mit jungen Männern auf der Straße reden darf. Was wird sie erst tun, wenn sie erfährt, daß Gül sogar einen Brief entgegengenommen
hat?
Gül kommt nicht auf die Idee, daß sie einfach Magenschmerzen vortäuschen und früher gehen könnte, früher gehen und sich ein
ruhiges Plätzchen suchen. Gül wartet, bis Esra sie heimschickt, aber warten ist nicht ganz das richtige Wort. Sie hält es
aus, sie hält die Zeit einfach aus.
Die ersten Schritte, nachdem sie Esras Haus verlassen hat, |176| geht sie noch ganz normal, doch schließlich rennt sie, sie rennt, ohne ein einziges Mal anzuhalten, bis zu dem Bach am Rande
der Stadt, kurz bevor die Sommerhäuser anfangen. Dort geht sie außer Atem in die Hocke, das Papier ist schon klamm von ihrem
kalten Schweiß. Mit zitternden Händen zieht sie den Brief hervor. Die eisige Luft hat ihr beim Laufen die Tränen in die Augen
getrieben. Vorsichtig reißt sie den Umschlag auf, und als sie das mit Bleistift beschriebene Blatt sieht, verschwimmen die
Buchstaben vor ihren Augen. Auch als sie die Tränen fortgewischt hat, kann sie nicht lesen. Ihr Blick fliegt über die Zeilen,
kann sich nirgendwo festhalten, sich an keinem Wort verankern. Es ist, als wäre Sprache kein Fluß, sondern ein Strudel, aus
dem nur einzelne Wörter aufblitzen: du, dich, gesehen, sehr, Sehnsucht, Schönheit, früher, immer.
Gül findet keine Ruhe, die Wörter zu verbinden, und je länger sie keine Ruhe findet, desto größer wird ihre Angst, entdeckt
zu werden. Und was, wenn jemand den Brief findet? Wo könnte sie ihn verstecken? Nirgendwo. Und lesen kann sie ihn auch nicht,
ihre Hände zittern immer mehr, ihre Angst wächst, dann knackst ein Ast. Sie hört Schritte.
Hastig
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