Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
zerknüllt sie den Brief und wirft ihn ins Wasser. Der Bach trägt die Worte fort.
    Als sie sich vorsichtig umdreht, sieht sie zwei kleine Jungen, die aus Zeitungspapier gefaltete Boote in den Händen halten.
     Gleich werden die Boote dem Brief folgen.
    Am nächsten Tag liegt Gül mit Fieber im Bett, und wieder kommt die Decke auf sie herab, und in ihren Fieberträumen sieht sie
     Blutegel und die Zeitungen, mit denen ihre Mutter die Schränke auslegt. Sie werden zu Briefen, die Zeitungen werden alle zu
     Briefen, die an sie geschrieben sind, und sie ist völlig verzweifelt, weil sie weiß, daß sie entdeckt werden wird.
    Fast eine Woche schreckt Gül immer wieder schreiend aus diesen Fieberphantasien hoch. Manchmal sieht sie ihren Vater an einer
     Biegung des Baches stehen, und er fischt den Brief zwischen zwei Steinen hervor, so wie sie seine Uhr im Bachbett gefunden
     hat.
    |177| – Gül, ist dieser Brief für dich? fragt er, und Gül schüttelt den Kopf, so schnell sie kann, doch ihr Mund sagt einfach:
    – Ja, ja, Recep hat ihn mir geschrieben.
     
    Timur geht gern ins Kino, in türkische oder ausländische Filme, in die Doppelvorstellungen, ein Liebes- und ein Abenteuerfilm,
     ein Drama und ein Western, es ist ihm fast egal, was läuft. Es ist ein Vergnügen, aber nicht so eins, wie nach Istanbul zu
     fahren, zu trinken, den Sängerinnen zu lauschen und den Fußballern zuzujubeln. Der Schmied mag es, bewegungslos im angenehmen
     Dunkel des Kinosaals zu sitzen, die Filmmusik und die Stimmen der Schauspieler in sich aufzunehmen. Dabei kann er den Tag
     vergessen. Die Sorgen, die Arbeit, seine juckenden Waden, seine verstorbene Frau, die Fehler seines Gehilfen, die Hitze des
     Schmiedefeuers, seine Lieblingskuh, alles verschwindet, und er wird wohlig müde. Meistens nickt er dann ein. Er genießt das
     Gefühl, sich dieser Schwere hinzugeben. Es ist nicht so, als würde man im Bett in den Schlaf hinübergleiten, der Schlaf im
     Kino ist viel süßer.
    Wenn er anfängt zu schnarchen, was regelmäßig vorkommt, oder wenn sein Kopf auf seine Schulter fällt, schreckt er hoch. Damit
     sein Schnarchen die anderen Besucher nicht stört, steht er auf und geht ein wenig spazieren. Die Straßen sind leer um diese
     Zeit, und Timur setzt seine Mütze auf, steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert durch die Dunkelheit, genießt die
     Stille und die Sterne. Schließlich kehrt er zurück, doch schon nach kurzer Zeit nickt er meistens erneut ein und steht auf,
     um noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Timur geht gern ins Kino, aber nicht wegen der Filme. Selbst die, die er ganz
     sieht, hat er am nächsten Tag meist schon wieder vergessen.
    Im Gegensatz zu seinen Töchtern, die manche Filme, solange sie leben, erinnern werden. Es ist wie Radio, nur mit Bildern,
     hat er Gül und Melike erklärt, als er sie das erste Mal mitgenommen hat. Doch das Kino hat Güls Phantasie übertroffen. Radio
     mit Bildern, aber daß es dunkel werden würde |178| wie in einem Stall, hat ihr Vater nicht erzählt. Auch nicht, daß man Menschen dabei zusah, wie sie sich gegenseitig anschrien,
     wie jemand allein in einem Zimmer saß und weinte, und daß man dabei war und doch nichts tun konnte. Ihr Vater hat ihr auch
     nicht gesagt, daß er einschlafen würde und dann rausgehen, um sie mit ihrer Schwester allein in dem großen Saal zurückzulassen.
     Gül hat den Arm um Melike gelegt, nicht um sie zu beschützen, sondern um zu spüren, daß da noch jemand ist, ganz nah bei ihr.
    Sie hat später an das lachende Gesicht denken müssen, das Gesicht einer älteren Frau, die irgend etwas ausgeheckt hatte, etwas,
     das Gül nicht begriffen hat. Das Lachen war ein böses Lachen gewesen, ein Lachen, das einem Angst machen sollte. Aber nicht
     wochenlang.
    Melike schien sich weniger zu fürchten, auch wenn sie bei ihrem ersten Besuch dankbar dafür gewesen war, daß Gül ihren Arm
     um sie gelegt hatte.
    Melike mag Filme, sie sind ihr eine andere Welt, in der sie leben kann. Später wird sie damit anfangen, die Filme, die sie
     gesehen hat, in eine Kladde zu schreiben, ein Filmtagebuch zu führen. Hier und da wird sie vielleicht etwas verändern, einen
     reichen Mann noch reicher machen oder einem der Bösen einen Akt von Selbstlosigkeit andichten, einer Frau eine weitere Tochter
     schenken oder einem Mädchen ein Spielzeug wegnehmen. Aber sie wird drei Jahre lang alle Filme aufschreiben, die sie sieht,
     und davon träumen, eines Tages auch

Weitere Kostenlose Bücher