Die Tochter des Schmieds
schnell sie kann, mit Candan
im Arm. Sie merkt, wie Recep ihr nachblickt. Vielleicht lächelt er.
Erst als sie um die nächste Ecke gebogen sind, fragt Esra:
– Kennst du ihn?
Gül antwortet nicht.
– Gül, sagt Esra und bleibt stehen, du bist jetzt schon eine junge Frau. Es schickt sich nicht, auf der Straße Männer anzugucken.
Ich werde es niemandem erzählen, aber weißt du, was dein Vater macht, wenn er hört, daß du mitten auf der Hauptstraße Blicke
mit einem jungen Mann tauschst? Weißt du, was die Leute dann sagen?
– Ja, sagt Gül, ich weiß.
Den Rest des Weges sprechen sie kein Wort mehr. Gül kann nicht denken, sie fühlt nur, daß sie einen Fehler gemacht hat. Es
ist, als hätte sie eine falsche Entscheidung getroffen, die eine Leere hinterlassen hat. Als wäre ein unsichtbarer Mensch,
der immer bei ihr war, jetzt fort.
Esra verlangsamt ihren Schritt und bleibt schließlich unschlüssig vor dem Stoffladen stehen. Sie kennt das Verlangen im Blick
des Schmieds, doch wahrscheinlich ist sie überrascht, eine ähnliche Sehnsucht in Güls Augen wiederzuentdecken. Möglicherweise
gerät Gül in Schwierigkeiten, wenn sie zudem noch ein schickes Kleid hat. Sie sagt:
– Ich habe das Geld zu Hause vergessen.
– Wir können doch anschreiben lassen.
– Ja, könnten wir … Aber … Nein, nein, heute nicht.
Gül schaut an Esra vorbei in den Laden. Der Stoffhändler ist von seinem Stuhl aufgestanden und kommt an die Tür.
– Bitteschön, wie kann ich den drei Damen helfen?
Vielleicht bildet Gül es sich nur ein, aber sie kann den nachtblauen Stoff im Regal funkeln sehen. Er scheint sie zu rufen.
– Was ist, Esra, möchtest du nicht eintreten? fragt der Stoffhändler.
|173| – Nein. Nein, danke, Onkel Serdar, heute nicht.
– Wartet kurz hier.
Der Mann geht in den Laden und kommt mit zwei Walnüssen zurück. Eine reicht er Candan und eine Gül. Die beiden bedanken sich.
Auf dem Rückweg nimmt Gül Candan an die Hand und geht wieder ein Stück hinter Esra. Recep begegnen sie nicht.
Den Rest des Tages ist Gül auffällig still, und Esra lächelt manchmal vor sich hin, und manchmal schüttelt sie mitten in der
Arbeit den Kopf. Gül weiß, daß es nicht richtig war, stehenzubleiben, aber sie hat sich gefreut, Recep wiederzusehen. Am liebsten
hätte sie ihn umarmt. Wie er sich verändert hat. Seine Haare sind nicht mehr kurzgeschoren, und wenn auch keine Brillantine
drin war, in seiner Hosentasche hatte er bestimmt einen marmorierten Kamm. Das abgewetzte Jackett, in dem er gefroren haben
muß, ist ihm etwas zu klein. Aber er ist ja auch groß, fast schon so groß wie ihr Vater. Seine Augenbrauen sind dichter geworden,
die Nase ist ausgeprägter, und seine Augen scheinen noch heller zu funkeln als früher.
Er hat nicht ausgesehen wie jemand vom Dorf, der Kühe hütet, er hat keine Pumphose angehabt und keine Plastikschuhe, er trug
eine Anzughose, und einfach alles an ihm hat nach Stadt ausgesehen. War er etwa schon länger hier? Würde sie ihn wiedersehen?
Und was sollte sie dann sagen? Sie konnte nicht wieder sprachlos dastehen und nicht mal seinen Gruß erwidern. Irgend etwas
mußte sie dann sagen. Aber was?
Esra hat recht. Sie kann nicht auf der Straße mit jungen Männern reden. Dafür ist sie schon zu alt. Also ist es besser, wenn
sie ihn nicht mehr trifft. Sie wünscht sich, daß es nur ein Zufall war. Und sie wünscht sich, daß sie sich wieder begegnen.
Sie wird nicht mit ihm sprechen, sie wird auch nicht stehenbleiben, sie wird einfach die Augen niederschlagen und weitergehen.
Zu gern würde sie ihn noch mal wiedersehen. Nur sehen, |174| nur einen Augenblick, das würde schon reichen. Heute war es so kurz, heute war es nur wie ein Traum.
Die nächsten Tage hält sie die Augen auf, morgens, wenn sie zu Esra geht, mittags, auf dem Heimweg, dann auf dem Weg zurück
zu Esra und schließlich ein letztes Mal, wenn sie in der Dämmerung wieder nach Hause läuft.
Sie trödelt nicht mehr, sie macht auch keine kleinen Umwege. Sie hat Angst davor, Recep wiederzusehen. Sie hat Angst, weil
sie nicht weiß, was sie dann tun soll, und sie hat Angst, daß es jemand beobachtet und ihrem Vater erzählt.
Die Tage vergehen, werden zu Wochen, und irgendwann bekommt Gül kein Herzklopfen mehr, wenn sie von weitem jemanden sieht,
der entfernte Ähnlichkeit mit Recep hat. Jeden Morgen scheint es noch ein bißchen kälter zu werden, und als es nachts zehn
Grad
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