Die Tochter des Schmieds
schenken?
Kann sie es nicht einfach ihrem Vater in die Hosentasche tun? Und wenn sie dabei erwischt wird? Nie könnte sie erklären, wie
es dazu gekommen ist. Und wenn sie es doch tut, würde er sich doch nur wundern, wenn er es findet. Sich wundern und es wegwerfen.
Woher sollte er denn wissen, daß dieses Los den dritten Preis bei der großen Neujahrsziehung bekommen hat.
Drei Tage später, sie humpelt nur noch ganz leicht, geht das Los denselben Weg, den der Brief gegangen ist. Es schwimmt vom
Bach ins Meer, das Gül noch nie gesehen hat, es endet im Salzwasser.
– Gül, die Nachbarin braucht noch jemanden, um ihre Holztruhe ins andere Zimmer zu tragen, läufst du rüber und hilfst ihr?
Als Gül bei der Nachbarin ankommt, ist da noch ein Ehepaar mit seinem Sohn. Gül hat die drei noch nie vorher |186| gesehen. Die hätten doch auch helfen können, denkt sie und trägt zusammen mit der Nachbarin die Truhe hinüber.
Erst als dasselbe Ehepaar abends zu Besuch zu ihnen kommt und der Sohn wieder dabei ist, geht Gül ein Licht auf. Sie sieht
sich den jungen Mann noch mal an. Dunkle Augen, pechschwarze, kurze Haare und ein Gesicht, als könnte er niemandem etwas zuleide
tun. Er sieht so unschuldig aus, nicht rein, sondern unschuldig. Gül serviert dem Besuch mit gesenktem Kopf Tee und verschwindet
dann schnell aus dem Zimmer. Als die drei gegangen sind, kommt Timur zu Gül und sagt:
– Du weißt, warum sie da waren?
– Ja.
– Und?
– Ich weiß es nicht.
– Gefällt er dir?
– Ich weiß es nicht.
– Es ist eine sehr reiche Familie. Es würde dir gutgehen dort. Sein Vater ist Juwelier, man sagt, er sei ein guter Junge,
keine schlechten Angewohnheiten.
– Ich …
– Denk bis morgen in Ruhe darüber nach. Bis übermorgen. Bis nächste Woche. Mein Mädchen.
Möglicherweise bildet Gül es sich nur ein, aber die Augen ihres Vaters scheinen feucht zu werden.
Reich, denkt Gül, als sie im Bett liegt, reich, und wir sind nicht reich. Ich würde mich bestimmt klein fühlen dort. Das sind
andere Menschen, die sind nicht so wie wir.
Am nächsten Morgen, als ihr Vater seine Suppe löffelt, sieht Gül ihn an, bis er innehält und sie anschaut. Gül schüttelt den
Kopf, ihr Vater nickt, steckt sich noch eine Ecke Brot in den Mund und nuschelt etwas. Gül glaubt die Worte
sowieso zu früh
zu verstehen. Sie will noch nicht von zu Hause weg, doch sie weiß, daß sie in dem Alter ist, in dem ihre Mutter damals geheiratet
hat.
|187| Einige Wochen später sind die drei Schwestern einmal allein zu Hause, was nicht besonders häufig vorkommt, und wie fast immer
rennen sie sofort zur Holztruhe ihrer Mutter. Ihrer richtigen Mutter. Nahezu jede Frau hat so eine Truhe, die sie in die Ehe
mitbringt und in der sie ihre Aussteuer aufbewahrt, die schönen Kleider und Schuhe, die selbstgehäkelte Spitze, das Brautkleid,
die Kopftücher.
Sibel, Melike und Gül ziehen die Kleider ihrer Mutter an, schlüpfen in die Schuhe, die ihnen zu groß sind, stolzieren im Haus
damit herum und bewundern sich gegenseitig. Wenn sie genug davon haben, bestaunen sie den weichen Stoff der Taschentücher,
den feinen Spitzenrand, in dem winzige Perlen eingearbeitet sind, sie atmen das Naphthalin ein, und Gül erzählt, wie ihre
Mutter früher im Schein der Gaslampe gehäkelt hat.
Später öffnen sie manchmal auch die Truhe ihrer Stiefmutter und ziehen deren Kleider ebenfalls an. Und immer ist es Güls Aufgabe,
am Ende alles wieder ordentlich zu falten und so in die Truhe zu legen, daß niemand etwas merkt.
In der Truhe ist nicht nur die Brautausstattung, hier werden auch noch andere Kostbarkeiten aufbewahrt. Wie der Plastikball,
den Timur mal aus Istanbul mitgebracht hat, ein kleiner bunt gestreifter Ball, den Arzu den Kindern immer nur stundenweise
gibt.
– In Ordnung, sagt sie, nachdem sie lange genug gebettelt haben. Nehmt den Ball, und wenn der Muezzin zum Nachmittagsgebet
ruft, bringt ihr ihn wieder her.
Sobald sie mit dem Ball auf die Straße gehen, wollen alle mit den Töchtern des Schmieds spielen, denn außer ihnen hat niemand
einen Plastikball. Die Jungen spielen Fußball mit zusammengeknüllten Lumpen, die sie mit einem Strick umwickeln.
Wenn die Mädchen den Ball heimlich aus der Truhe nehmen, gehen sie damit nicht raus, sondern spielen lieber drinnen. Es könnte
ja sein, daß jemand sie verpetzt.
An diesem Tag sitzen sie, nachdem sie Ball gespielt haben, |188| schwitzend auf
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