Die Tochter des Schmieds
aus einem Sumpf von Drogen und Prostitution
oder erlöst werden von unerträglicher Arbeit und Bürde, über Männer, die gerettet werden aus einem Sumpf von Drogen, Alkohol
und Zuhälterei oder aus dem Gefängnis, in dem sie unschuldig sitzen. Oder nur, weil sie den Mord an ihrem Vater gerächt haben.
Gerettet werden alle. Alle Guten.
Je mehr fremde Träume sie sieht, desto mehr sehnt sie sich in andere Welten. Sie fängt an, Fotoromane zu lesen, die jeden
zweiten Samstag herauskommen. Ärzte, die sich in Krankenschwestern verlieben, junge Männer aus der Oberschicht, deren Lotterleben
plötzlich aufhört, weil die Liebe einschlägt wie ein Blitz, Schwestern, die in denselben Mann verliebt sind, dessen verschollener
Bruder auf wundersame Weise auftaucht. Doch es gibt auch Geschichten, die blutig enden, in denen Mütter ihre sterbenden Töchter
in den Armen halten, Männer ihrer Vergangenheit nicht entfliehen können, Geschichten, in denen das Böse Opfer verlangt, fünfzehn
Jahre im Gefängnis, ein Vater im Rollstuhl oder eine Mutter ohne Augenlicht. Geschichten wie die alten Lieder, wo alles immer
in Bitterkeit endet, weil es nichts gibt auf der Welt, das etwas wert wäre, wo Liebe nie erwidert wird und man trotzdem weitermacht,
Geschichten wie der anatolische Blues.
Meistens kauft Timur seiner Tochter den Fotoroman, manchmal aber auch Fuat. Melike darf die Romane erst haben, wenn Gül schon
durch ist. Später, wenn Gül sie noch mal liest, sind Fettflecken auf dem billigen rauhen Papier oder Eselsohren darin, manchmal
fehlen sogar Seiten. Als Sibel beginnt, ihre ersten kleinen Geschichten zu zeichnen, sind es Abwandlungen von Fotoromanhandlungen
oder Sequenzen von Kinofilmen, die sie geringfügig ändert und für etwas Eigenes hält. Anders als ihre Bilder zeigt sie diese
kurzen Geschichten niemandem, sondern versteckt sie immer sorgfältig zwischen ihren Schulsachen.
|208| Im Spätherbst steht Gül mit ihrer Mutter im Laden, um den Stoff für das Brautkleid auszusuchen, das sie sich selber nähen
wird. Der Stoff, der Gül am besten gefällt, ist teuer. Ihre Mutter lächelt gequält und gibt ihr mit den Augen zu verstehen,
daß sie sich einen anderen aussuchen soll. Aber lieber hat Gül einen Stoff, der ihr gefällt, als eine lange Schleppe. Als
sie dem Verkäufer sagt, wieviel Meter sie möchte, blickt dieser sie fragend an:
– Ist das nicht, fängt er an, doch Gül unterbricht ihn:
– … genau die richtige Länge, sagt sie.
Der seidig glänzende mattweiße Stoff wird vom Ballen geschnitten, und Arzu holt wie unter Schmerzen das Geld hervor, aber
das einzige, was sie später auf dem Heimweg sagt, ist:
– Was werden die Leute sagen, wenn deine Schleppe nur so kurz ist?
Gül näht, sie näht mit Sorgfalt, mit Konzentration. Immer wieder fragt sie Esra:
– Es wird doch gut, oder?
Und eines Tages, nachdem sie die Frage bestimmt schon zehnmal gestellt hat, sagt sie völlig unvermittelt:
– Esra Abla, was muß ich tun? Und sie flüstert leise hinterher: In der Hochzeitsnacht?
Esra zögert.
– Hat deine Mutter dir nichts erzählt?
Gül errötet.
– Du brauchst keine Angst zu haben. Versuch dich zu entspannen, zieh dich aus, und versuch dich einfach zu entspannen. Überlaß
es Fuat. Es tut nicht weh. Vielleicht ein ganz kleines bißchen am Anfang, aber eigentlich ist es schön … Sehr schön.
Gül ist noch röter geworden, sie schwitzt. Sehr schön also, Esra sagt, es sei sehr schön. Sie braucht keine Angst zu haben.
Gül näht sich ein perfekt anliegendes, tailliertes Hochzeitskleid, das sie wieder und wieder anprobiert. Sie dreht sich vor |209| dem Spiegel und betrachtet, was sie in stundenlanger Arbeit aus dem Stoff gemacht hat. Es sind friedliche, selbstvergessene
Stunden, in denen Gül an der leise surrenden Maschine sitzt, den Fuß auf dem Pedal, die Augenbrauen leicht zusammengezogen,
den Blick fokussiert. Nichts kann sie stören, ihre Gedanken sind ganz auf die Arbeit gerichtet, sie träumt nicht davon, wie
ihre Hochzeit wird, sie merkt auch nicht, wie die Kälte wieder in die Häuser kriecht, durch die Türritzen und Fensterläden.
Die Kälte nimmt langsam alles wieder in ihren Besitz, und der einzige Ort, an den sie sich nicht hintraut, ist die Nähe der
Öfen. Doch ansonsten ist sie überall und scheint mit perlweißen Zähnen zu grinsen: Wartet nur ab, dieses Jahr werde ich euch
besonders zu schaffen machen.
Das Kleid ist
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