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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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nie zueinanderzufinden.
    »Ist das eine neue Bluse?« fragte ihre Mutter plötzlich.
    »Was ist daran falsch?«
    »Nichts ist daran falsch. Warum muß immer etwas falsch sein? Nur, hältst du sie nicht für ein wenig schlicht? Du könntest so hübsch aussehen, wenn du nur ein bißchen mehr auf deine Kleidung und dein Make-up achten würdest. Du hast die Knochenstruktur dafür.«
    »Sieh mal, ich habe viele Freunde. Über Mangel an Aufmerksamkeit kann ich mich nicht gerade beklagen, okay? Also fangen wir nicht wieder mit dem Make-up an.«
    Die Stimme ihre Mutter wurde scharf. »Du läßt dich doch nicht etwa von ihnen ausnutzen, oder? Das ist das eine, was ich bedauere, daß ich mich nicht für die Hochzeitsnacht aufgespart habe. Sieh mich nicht so an. Wenn sie mit dir tun können, was sie wollen, respektieren sie dich hinterher nicht. Selbst dein Vater war so. Ich bin davon überzeugt, wenn du ... oh, schon gut.«
    Auf der anderen Flußseite entlud ein Tanker, der in dem Dämmerlicht geheimnisvoll wirkte, seine Ölladung. Sie blieben stehen, um ihn zu betrachten. »Mama, ich habe nachgedacht. Vielleicht solltest du nicht soviel trinken.«
    Ihre Mutter starrte das Schiff an und sagte nichts.
    »Hör mal, Mama. Ich glaube, ich werde dich eine Weile lang nicht besuchen können. Die Examensprüfungen stehen bevor. Ich werde fürchterlich viel zu tun haben. Es mag sein, daß ich dich vor Winterende nicht mehr besuchen kann. Erst wieder irgendwann im Frühjahr.«
    Ihre Mutter schüttelte den Kopf, sie hörte noch immer nicht zu. »Diese Träume sind so beruhigend für mich«, sagte sie. »Du kannst dir das nicht vorstellen. Selbst im Wissen, daß sie nicht wirklich sind, habe ich immer irgendwie das Gefühl, daß sie es auf einer gewissen Ebene doch sind. Ich fürchte, ich drückte mich nicht sehr klar aus.«
    »Es sind keine Träume, Mama.«
    »Pscht, Jane.«
    »Eines Tages werde ich wirklich hier sein. Daran arbeite ich jetzt, lerne alles, was ich lernen kann. Eines Tages werde ich heimkehren.«
    »Nicht.« Janes Mutter weinte leise. »Nicht, oh, tu’s nicht. Tu mir das nicht an.«
    Da spürte Jane ein unbeschreibliches Gefühl von Liebe und Schuld in sich aufwallen. Ohne nachzudenken griff sie nach ihrer Mutter und stieß die Flasche Babyöl um. Die Verschlußkappe flog durch das Zimmer, und das Öl verursachte eine solche Schweinerei, daß sie Stunden brauchte, alles wieder zu säubern.

    »Hoch mit dir, alter Stein!«
    Dr. Nemesis schlug mit einer Rute aus Eschenholz auf einen grauen Felsbrocken. Die Rute zersplitterte. Die Studenten ihres Seminars beugten sich über den Tisch und hielten den Atem an.
    Der Stein hob sich, wobei sich sein Umriß verformte. Er hatte noch nicht ganz abgehoben, da erstarrte er wieder, ein halb ausgeformtes Ding, dem das kritische Auge vielleicht eine Neigung zum Anthropomorphismus nachsagen konnte, jedoch sonst nichts weiter.
    Während sie die Eschenstabsplitter auf den Fußboden fegte, fragte Dr. Nemesis: »Was haben wir bewiesen?« Ihr strenger Blick flog über die Studenten. Keiner begegnete ihm. »Miß Greenteeth. Antworten Sie sofort!«
    »Daß Stein härter als Holz ist«, erwiderte Jenny und ließ es darauf ankommen. Oft genug, gab sich Dr. Nemesis mit einer Tautologie zufrieden, wenn sie amüsant genug war.
    »Das trifft gewiß nicht auf Ebenholz und Bimsstein zu«, fauchte Dr. Nemesis. Der faulige Gestank ihres Mißfallens traf die verschreckten Studenten wie ein Schlag. »Miß Alderberry. Denken Sie weiter darüber nach.«
    »Wir haben demonstriert, daß alles lebendig ist.« Dr. Nemesis runzelte die Stirn, und Jane korrigierte hastig ihre Antwort. »Daß alle Materie Leben impliziert. Selbst jene Dinge, die uns inert erscheinen, sind es nicht, sondern sie schlafen bloß.«
    »Erläutern Sie Ihre Behauptung anhand eines Beispiels!«
    »Äh ... nun, die vis plastica zum Beispiel. Ihr Einfluß ist lebensspendend, und Stuten und Mutterschafe, die auf den Weiden mit dem Rücken dazu stehen, werden mit neuem Leben befruchtet. Wenn sie über das Gesicht einer Klippe streift, erweckt sie im Oberflächengestein das Verlangen nach komplexer Form, und es fließt zu den Abbildern wunderlicher Tiere, Schädel, Knochen und eingerollter Schlangen zusammen. Unwissende halten das für archaisches Leben, das in den Stein gezaubert wurde. Dann kommt ein Wind auf, und der lebensspendende Einfluß ist verschwunden, der Stein kehrt zu seinem normalen niedrigen Metabolismus zurück und fällt wieder

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