Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
viele Menschen in der Eisenbahn taten. »Das ist die Vorlesung über Höhere Grammatik, Dummerchen. Ich hab dir alles beim Mittagessen erzählt, erinnerst du dich nicht?«
    Jane schüttelte den Kopf. Sirin achtete nicht darauf und fuhr fort: »Diese Vorlesung gibt es nur einmal alle zehn Jahre. Die übrige Zeit wird der Vortragende versiegelt in einem Krug Olivenöl in den Katakomben aufbewahrt.«
    »Oh, ganz bestimmt nicht.«
    »Ganz bestimmt. Ich kenne einen Assistenten, der dabei geholfen hat, ihn zu dekantieren.«
    Ein ziegenköpfiger Verwaltungsmensch stellte sich ans Pult. Er räusperte sich. »Es gibt zuwenig Helden in der Naturphilosophie. Doch heute abend präsentiere ich Ihnen nicht nur einen Helden, sondern einen Krieger, geradezu einen akademischen Berserker, der einen direkten Angriff auf die vertraulichsten Geheimnisse der Göttin unternommen hat. Als er und seine Gefährten sich daran machten, ihre Festung zu bestürmen und sie zu zwingen, ihnen ihr Wissen zu überlassen, wußten sie, daß dieser Versuch nicht nur sie selbst zerstören könnte, sondern auch die oberen und unteren Welten. Aber dies schreckte sie nicht einen Augenblick lang ab. Denn sie hatten den Mut ihrer Überzeugung. Sie hatten intellektuelle Ehrbarkeit.
    Nur einer dieser ruhmreichen Gesellschaft kehrte zurück. Er steht jetzt vor uns. Gibt es jemanden, der weniger einer Einführung bedarf, als mein ausgezeichneter Kollege? Ich präsentiere Ihnen den gepriesensten aller Gelehrten, einen lebenden intellektuellen Schatz, das feinste Exemplar in unserer Sammlung ...« Sirin stieß Jane mit dem Ellbogen an. »Professor Tarapple.«
    Unter dem nachfolgenden Applaus zog er sich würdevoll auf einen leeren Stuhl zurück, und eine verhutzelte Gestalt erstieg das Podest.
    Selbst für die Schule der Grammatik, der man in weiten Kreisen nachsagte, sie habe das Konzept der freien Künste bis ins Extrem getrieben, war Professor Tarapple eine bizarre Erscheinung. Er wirkte wie verbrannte, krümelige, ausgeglühte Schlacke, war geschwärzt und klein. Die Gliedmaßen waren versengte Stöcke, der Rumpf war geborsten, verschrumpelt und verkohlt. Der Mund stand offen, und der Gang war langsam und schmerzhaft. Er wirkte wie ein Katalog aller Gebrechen des Alters.
    Er tastete nach dem Mikrofon. Als er die Hand darum schloß, ertönte ein leises Bumm , woraufhin er sie wieder zurückzog. Die verkohlten Augenhöhlen hoben sich zur Decke. Jane ging auf, daß er blind war.
    »Meine ehrenwerten Herren«, sagte er, »Gelehrte und Autoritäten.« Seine Stimme war schwach und dünn, aber das Verstärkersystem trug sie durch den Hörsaal. Von unten sah der Kopf auf den dürren Schultern wie eine riesige Melone aus, die auf einem Zaunpfahl balancierte und herabzufallen drohte. Er umklammerte das Vortragspult mit beiden Händen. »Die Welt kann auf drei verschiedene Weisen wahrgenommen werden, und es scheint oftmals so, als würden diese drei Weisen gegeneinander arbeiten. Es sind ...« Er schwankte, wäre fast steckengeblieben und fuhr mühsam fort. »Da haben ... haben ... wir zunächst die nichthinterfragende Wahrnehmungsweise, wie bei einem Kind, in der Brot Brot ist und Wein Wein.
    Die zweite Wahrnehmungsweise ist ...« - er schwankte leicht - »ist die allgemeine Wirklichkeit. Dabei handelt es sich um bestimmte Konventionen. So stimmen wir darin überein, daß Brot eine Mahlzeit ist und Wein Kameradschaftsgeist.« Es folgte ein kleines höfliches Gelächter. »Die dritte Weise ist die wissenschaftliche Forschung. Damit befassen sich unsere Kollegen an den Schulen der Zauberei. Es geht um das Zusammenspiel von Kräften, was sie für die absolute Wirklichkeit halten.« Ein lauteres kräftigeres Gelächter. »Doch fragen wir uns, was jenseits davon liegt. Worin besteht die wahre Wahrnehmungsweise dessen, was wir die Hyperrealität nennen mögen?«
    Ein langes Schweigen. »Erstes Dia, bitte!«
    Das Licht ging aus, und aus dem Vorführraum im Hintergrund ertönte ein deutliches Klick . An der Wand hinter dem Professor erschien ein strahlendes Abbild von etwas, das irgendeine riesige gebleichte Seemuschel sein mochte, die so groß war wie ein Berg und über einem grenzenlosen Ozean hing. Die Zuhörerschaft war völlig verstummt.
    Professor Tarapple nahm einen Laserpointer in die Hand, wobei er rußige Abdrücke auf der Oberfläche des Pults hinterließ. Er lenkte den Zeiger auf das Dia mit Bewegungen, die ebenso ruckartig und unüberzeugend waren wie die Bewegungen

Weitere Kostenlose Bücher