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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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in Schlaf.«
    »Inwiefern beweist dies Ihren Fall?«
    »Weil wir wissen, daß nichts mit Eigenschaften versehen werden kann, die es nicht besitzt. Purpurfarbenes Licht, das durch eine rote Linse fällt, kann durch das Entfernen seiner blauen Komponente rot gemacht werden, aber derselbe Strahl wird nicht durch eine gelbe Linse fallen, denn Gelb ist ihm nicht implizit. Also muß das Leben dem Stein implizit sein, wenn er dazu veranlaßt werden kann - selbst nur temporär -, sich zu regen und zu leben.«
    Dr. Nemesis fiel über das Finkenmädchen her. »Miß Pec-a-Bit. Angenommen, die vis plastica verschwindet nicht von der Klippe, sondern bläst endlose Tage darüber hinweg: welche vertrauten Lebensformen würde sie erzeugen?«
    »Wasserspeier und Steinkriecher.«
    »Untermauern Sie Ihre Behauptung.«
    »Wie gerade gesagt wurde, handeln die Dinge in Übereinstimmung mit ihrer Natur. Das neue Leben würde seinen steinernen Körper und den Bewußtseinszustand beibehalten. Was eine Vorliebe für vertikale Oberfläche mit einschließt, eine gewisse Langsamkeit der Lebensvorgänge sowie ...«
    Der Seminarraum war klein, und seine Radiatoren waren zu hoch eingestellt. Sie klapperten und ächzten, wenn sie in Betrieb waren, und strahlten so viel Hitze ab, daß die Fenster beschlugen und Tränen weinten. Zudem war die Luft stickig. Jane wartete, bis Dr. Nemesis woanders hinsah, und hob eine Hand an den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken.
    Alarmiert von irgendeinem inneren Sinn versteifte sich Dr. Nemesis. Sie warf Jane einen strengen Blick über die Schulter zu. Die wäßrigen, rosafarben geränderten Augen wurden hart.
    »Entschuldigen Sie, ich ...«, begann Jane.
    Sie hielt inne. Der Raum war leer. Seine Wärme war verschwunden. Verschwunden auch das bleiche Winterlicht, das durch die Fenster fiel. Eine weite und dunkle Aussicht auf viel zu viele Dächer ersetzte es. Es war tatsächlich ein völlig anderer Raum. Jane befand sich im Aufenthaltsraum für Studenten in der obersten Etage von Bellegarde. Die Glut eines industriellen Sonnenuntergangs brannte tief am Horizont.
    Es war Nacht.
    Wie betäubt streckte Jane die Hand aus und berührte das Glas des Fensters vor sich. Es war ermutigend kühl und fest. Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich. Und: Was tu ich hier?
    »Jane?« fragte jemand. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Ein blasses Spiegelbild schwamm neben dem eigenen im Fenster. Es kräuselte sich und löste sich zunächst zu einem Schädel und dann zu einem schmalen lieblichen Gesicht auf, dessen Augenhöhlen unter dem Fluoreszenzlicht an der Decke dunkel waren. Jane sah nicht mehr in die Ferne, sondern konzentrierte sich auf das Gesicht.
    Es war Gwen.
    Jane fuhr keuchend herum. Aber hinter ihr stand gar nicht Gwen, sondern Sirin. Sie sah wieder zum Fenster und konnte Gwens Gesicht nun nicht mehr in Sirins Abbild erkennen. »Meine Liebe!« Sirin faßte sie am Arm. »Was um alles in der Welt ist denn los mit dir?«
    »Ich ...« Mit dem Rücken zum Fenster sah Jane an leeren Sofas vorüber in den Flur, wo sich ein murmelnder Bach von Lehrenden und Studierenden durch die Türen des Erlkönig-Gedächtnis-Hörsaals ergoß. »Dr. Nemesis hat mich aus dem Seminar hinausgeworfen. Seitdem kann ich mich an nichts erinnern. Ich muß über einen halben Tag verloren haben.«
    In diesem Augenblick schlugen die Konsequenzen von Dr. Nemesis’ Verärgerung mit voller Wucht zu. Alles, was sie seit diesem Augenblick getan hatte - der größte Teil der täglichen Seminare, ihre Studien, die Begegnungen mit Freunden -, war ihr gestohlen worden. »Dieses Miststück.« murmelte sie. Dann, wütender: »Zum Teufel! Zum Teufel mit dieser Schlampe!«
    »Das ist die richtige Einstellung.« Sirin setzte Jane eine Studentenmütze, die Kopie ihrer eigenen, auf den Kopf und bugsierte sie durch die Menge. »Sieh aufgeblasen aus. Ich bezweifle, daß irgend jemand unangemeldete Gäste erwartet, aber ...« Sie lachte. »Hast du je im Leben schon mal soviel Tweed gesehen?«
    »Ist wohl kaum Absicht.« Sie kamen ohne Zwischenfall durch die Mahagonitüre. »Ich hab versucht ... he! Wohin gehen wir eigentlich?«
    Jane hätte Plätze ziemlich weit oben und am Rand bevorzugt, wo sie wahrscheinlich am wenigsten auffielen, aber Sirin marschierte hinab zur fünften Reihe, die hinter vier Reihen von Mitgliedern des Lehrkörpers frei geblieben war. Zur einen Seite des Vortragspults und dahinter saßen die Dekane der Universität geduldig auf Klappstühlen, wie es

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