Die Tochter des stählernen Drachen
ich glaube schon«, sagte Jane mit dünner Stimme.
»Gut. Jetzt geh nach Hause und schlaf dich aus.«
»O Corinde, ich würd’ s tun, wirklich. Aber ich habe Fata Incolore versprochen ...«
Corindes Augen blitzten. Er schlug mit der Spitze seines Spazierstocks auf den Boden und drehte sich auf dem Absatz um. Über die Schulter hinweg fauchte er: »Jemand nimmt Fata Jayne mit. Sie hat einen wichtigen Termin in der Vorstadt.«
Unter seinem dornigen Äußeren war Corinde wirklich sehr süß. Schade, daß sie ihn vor den Kopf gestoßen hatte! Jane hoffte dringend, sich nicht seine Feindschaft zugezogen zu haben. Der Gedanke beunruhigte sie den ganzen Weg bis nach Pentecost.
Der Eingang zum Haus Incolore - oder vielmehr das physikalische Erscheinungsbild des örtlichen Nexus von Haus Incolore - war grau und bescheiden. Er öffnete sich auf ihre Berührung hin und schloß sich geräuschlos hinter ihr. Unsicher ging sie durch einen schwach erleuchteten Narthex.
Die Halle, die Jane betrat, war überwältigend. Sie schien aus gewölbten und gebogenen Schatten geschnitzt, die sich in großen Schwüngen in die Dämmerung hoch oben erstreckten. Die grauen Wände, die bei der Berührung zu Granit wurden, waren gesäumt von schlanken weißen Säulen, die schwach in dem fernen Grau schimmerten. Zunächst glaubte Jane, die Säulen bestünden aus Marmor. Als sie jedoch eine Säule streifte, hatte diese die Wärme und Beschaffenheit von Elfenbein.
Überrascht sah sie wieder hinauf in die Gewölbe, und es schwindelte ihr, weil ihr nun aufging, was es war. Sie stand inmitten des abgestützten Brustkorbs eines gewaltigen Ungeheuers, dessen Rippen und Knochen poliert und neu zusammengesetzt worden waren, so daß sie jetzt die Stützen der Granithalle bildeten. Wie konnte sich ein solches Wesen nur aufrecht halten? Sicherlich brächen seine Organe unter dem eigenen Gewicht zusammen. Wie könnte es jedoch genügend Nahrung aufgenommen haben, damit es am Leben bliebe? Es mußte einen unglaublich trägen Stoffwechsel gehabt haben. Vielleicht waren seine Bewegungen überaus langsam gewesen. Vielleicht hatte es Jahrhunderte für einen einzigen Gedanken, Äonen für die Vollendung einer Handlung benötigt.
»Da bist du ja.«
Fata Incolore schritt brüsk in die Halle, wobei sie sich die Handschuhe überstreifte. »Sollen wir gehen?«
»Äh, ja. Warum nicht?« Jane starrte weiterhin neugierig auf die Elfenbeinsäulen. Sie konnte nicht anders. Incolore folgte ihrem Blick.
»Meine Ahnherrin.«
»Oh.« Jane folgte ihrer Gastgeberin in eine Arkade hinter der rechten Säulenreihe. Sie betraten einen offenen Aufzug, dessen Einzelheiten im Dämmerlicht nicht zu erkennen waren, und fuhren zu einer Galerie weiter oben. Ein enger Flur führte tiefer in die Schatten hinein. Mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter vom Eingang.
»Ich dachte, wir gingen aus. Irgendwohin«, sagte Jane.
»Ja, tun wir auch. Zu dem Ort, den ich dir zeigen wollte.«
»Werden Sie uns nicht von jemandem hinbringen lassen?« Incolore war eine papierdünne graue Silhouette, die in beständiger Gefahr war, völlig vor dem Hintergrund zu verschwinden. Sie ging mit langen Schritten, und Jane mußte sich beeilen, sie nicht zu verlieren.
»Nicht nötig. In meinem Haus gibt es Türen, die überall hinführen, wohin ich möchte.« Sie hielt mit ausgestreckter Hand inne und warf einen Blick über die Schulter, und die raubtierhaften Augen funkelten. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. »Hier hindurch.«
Jane trat durch die Tür und war geblendet vom Sonnenlicht.
Als ihr Sehvermögen zurückkehrte, wuchs um sie herum ein Krankenzimmer zusammen. Der antiseptische Geruch war unverkennbar, ebenso die halb zugezogenen Krankenhausvorhänge, vor denen Staubteilchen in einem Licht tanzten, das dick und golden wie Honig war. Dennoch wußte Jane genau, daß es im meilenweiten Umkreis von Pentecost kein Krankenhaus gab.
Absätze klapperten laut im Flur. Incolore ging hinüber und schloß die Tür, Ruhe kehrte wieder ein. Das Portal hinter ihr, durch das sie eingetreten waren, schloß sich spurlos. In der Mitte des Raums stand ein Glassarg, daneben ein Infusionsbehälter.
In dem Sarg schlief eine Frau.
Sie war hager und ausgemergelt und wirkte abgespannt. Die Kopfhaut unter dem dünnen weißen Haar war rosafarben, das Gesicht hatte tiefe Falten. Zuerst dachte Jane, die Frau sei tot, und dann, daß sie nicht so sehr alt, sondern vielmehr erschöpft sei. Im Schlaf hatte sie eine
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