Die Tochter des stählernen Drachen
Baum und einem Troll besteht lediglich in der Organisation.« Kalter Dunst wehte durch das Treppenhaus, das lediglich hier und da von Kohlepfannen erhellt wurde. Sie waren verschmierte Flecken in den rauhen Nebeln, rochen nach Holzkohle und hatten unruhige rosafarbene Herzen, weil die Kohle mit der Feuchtigkeit zu kämpfen hatte. »Wenn das Selbstverständnis eines Baums groß genug wäre, könnte er furzen und Fleisch essen.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Man sollte glauben, die Nutzanwendung sei offensichtlich.« Treppenabsätze flogen vorüber. »Fragst du dich niemals, warum die Mächtigen mit Ärger, Verlangen und Neid so rasch bei der Hand sind? Warum es bei uns so viele Fehden, Affären und Skandale gibt? Wir haben es so gewollt. Unser Verständnis der Welt und unserer selbst ist so groß, daß es keine klare Trennlinie mehr zwischen den beiden gibt. Wir sind beständig in Gefahr, völlig ineinanderzufließen. Und Incolore - zweifle niemals daran - ist groß unter uns. Manche flüstern sogar, daß ... Nun, schon gut. Unsere Fehler sind der Sand, der uns davor bewahrt, geradewegs von der Oberfläche der Existenz zu rutschen.«
Jane verlor den Halt und wurde ein Dutzend Stufen hinaufgeschleift, wobei sie sich sträubte wie eine widerspenstige Lumpenpuppe. An einem Treppenabsatz hielt Jouissante gerade lange genug inne, damit Jane wieder auf die Beine kam, und stürmte daraufhin weiter nach oben. Ihre Absätze schlugen Funken aus den Stufen.
»Aber wenn ... wenn ... wenn Sie nicht wirklich Sie ...« Es fiel schwer, unter diesen Bedingungen einen klaren Kopf zu bewahren, »... wenn Sie wirklich Fata Incolore sind, warum ... warum benehmen Sie sich dann so, als ob ...?«
»Bist du geistig zurückgeblieben?« wollte Jouissante wissen. »Rede ich mit mir selbst? Identität ist eine Fiktion. Das begreifst du doch sicherlich. Die Fatas Incolore und Jouissante sind einfach Spiele, die die Materie spielt. Ich bin nicht mehr Lesya Incolore als du.«
Sie stiegen noch immer hinauf. Fata Joissantes Energie war offenbar unerschöpflich. Jane jedoch wurde der Atem knapp. Ihr Kopf war wie benebelt. Eine Sekunde lang schien es, als drängten sich die Geister aller ihrer Opfer um sie, zerrten sie am Haar, zwickten sie mit kleinen kräftigen Fingern, verlangten schweigend die Rückgabe ihrer gestohlenen Namen. Jane schüttelte den Kopf, und da waren sie verschwunden.
»... könntest du fragen. Gelegentlich wird ein Kind ohne wahren Namen geboren. Es hat keinen flüchtigen Körper - verstehst du? Kein Selbst. Es hat Augen, Gehirn, Finger sowie Organe an den richtigen Stellen und in der richtigen Anzahl. Aber es ist gefühllos. Es weiß nichts. Es reagiert auf nichts.«
Gib mir meinen Namen zurück, sagte Esmeree. Jane drehte sich um, und sie war nicht da. Ich möchte, sagte Wibble sagte Appolidon sagte Gandalac. Gib mir sagte Lip mein sagte Gloam Leben sagte Hypallage zurück. Es waren zu viele, um ihnen zu folgen, und keiner von ihnen war dort, und Jouissante redete und redete.
»In diesem Fall wird das Kind für das Wohl des Staates beansprucht. Man schickt einen Drachen durch das Traumtor, der die niederen Welten beraubt und die flüchtigen Körper - dort nennt man sie Seelen - der sterblichen Kinder erntet. Nichts Materielles kann in die obere Welt zurückgebracht werden. Ah, aber Seelen ...!«
Ich fühle mich nicht schuldig, sagte Jane zu den Phantomen. Geht weg. Sie wirbelten um sie herum, waren weit weniger greifbar als die skelettierten Überreste herbstlicher Blätter. Sie rüttelten ärgerlich an ihr, schlugen ihr mit der Kraft einer eigensinnigen Motte gegen die Lippen. Es war erstaunlich, daß Jouissante keines davon sehen konnte.
Jouissante warf einen Blick über die Schulter zurück. »Wenn du nicht aufpasst, bin ich gezwungen, dir die Augen auszudrücken.«
»Bitte!« keuchte Jane.
Schließlich erreichten sie den letzten Treppenabsatz. Jane stolperte und blieb atemlos, erschöpft und dankbar stehen. Jouissante warf eine Elfenbeintür auf. »Dies ist der Sitz ihrer Macht - die Hirnschale.«
Sie traten ein. Kühles weißes Licht zerstreute und bannte die Phantome.
An den Wänden standen Reihen von elfenbeinernen Truhen, und auf dem Fußboden lagen weiße Läufer. Von der niedrigen Decke hingen Lichtschienen herab. Eine blasse Wand teilte den Raum so in zwei Kammern auf, daß man entweder in die eine Kammer sah oder in die andere, jedoch nie in beide gleichzeitig. Jede Kammer enthielt einen
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