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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Stuhl mit gerader Lehne, der den Bleiglasfenstern in den Augenhöhlen zugewandt war. Jouissante zog Jane in die linke Kammer. »Wir stehen im Schädel der ersten Incolore. Wenn du dich sehr still verhältst, spürst du die Kraft ihrer Persönlichkeit, wie sie tief im Knochen summt.«
    Wenn das stimmte, dann war Fata Incolores Ahnin sogar noch seltsamer gewesen, als man anhand der Überreste hätte glauben mögen. Denn ein überwältigendes Gefühl flüchtiger Existenz pochte von überallher durch Jane hindurch. Hier, das spürte sie, hatte nichts den Wunsch, es selbst zu bleiben. Für das Schreibpult aus Weißahorn spielte es keine Rolle, ob es Briefe enthielt oder Motoröl, stocksteif dastand oder in der Erde vergraben war, in prasselndem Regen nach Blut kreischte oder bloß in Flammen ausbrach. Ein Alabasterkrokodil sah so aus, als wollte es gleich losfliegen.
    »Was - was werden Sie mit mir tun?«
    »Das habe ich dir zu erklären versucht, du Dummerchen. Ich denke daran, deinen plumpen Körper zu zerstören und dich in eine Drossel oder einen Zaunkönig zu inkarnieren. Mit eigenem Weidenkäfig.« Sie machte sich daran, die Schränke zu durchwühlen. »Oder noch besser in ein rosafarbenes Schweinchen. Incolore könnte dich an der Leine führen.« Sie blickte kurz auf. »Oh, schau doch nicht so drein! Als Schwein könntest du ein weitaus angenehmeres Leben führen denn als Zaunkönig. Zum einen könnte man dich zur Stubenreinheit erziehen.« Flaschen klirrten und klapperten. »Setz dich auf den Stuhl, aber starr nicht in das Fenster. Es könnte sein, daß es dir etwas zeigen möchte, das dir ganz und gar nicht gefällt.«
    Jane blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen, auch wenn sie trotzdem einen kurzen Blick wagte. Das Fenster öffneten sich zu einem leeren Raum mit einem einsamen Paar Arbeitsstiefel fast in der Mitte. Einer lag auf der Seite. Schlamm klebte an der Sohle. Die Schnürsenkel waren schmutzig. Selbst wenn es um ihr Leben gegangen wäre, hätte sie sich nicht vorstellen können, weswegen sich das Fenster auf etwas so Banales konzentrieren sollte. Und dennoch hatte ihre Fängerin recht. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund verspürte sie bei dem Anblick ein irrationales Entsetzen.
    »In der Hirnschale gibt es zwei Fenster; eines blickt auf Lügen, eines auf Wahrheit. Nicht einmal Lesya Incolore weiß, welches das entsprechende ist.« Jouissante kippte eine Truhe um. Sie trat den Inhalt durch den Raum. »Hier auch nicht! Wo im Namen von Maga Argea kann es sein?«
    Etwas an dem Stuhl oder möglicherweise der Raum selbst war der Trägheit förderlich. Jane blickte auf ihren Schoß hinab. Sie war außerstande aufzustehen.
    »Aha!« Fata Jouissante hielt triumphierend ein schnurloses Telefon hoch. Nummern piepten. Sie wartete und sagte dann: »Hier ist Fata Incolore. Schick doch bitte ein Schwein rauf, ja? Ja. Nein, es muß ein sympathisches Wesen haben. Süß, ja. Seine Veranlagung ist mir sehr wichtig. Nein, weiblich.«
    Jane hörte zu und wußte, daß die Worte Anlaß zur Sorge gaben. Aber es fiel ihr schwer, sich Sorgen zu machen. Die Trägheit, die sie an den Stuhl fesselte, breitete sich im gesamten Körper aus. Wenn sie nicht auf der Stelle etwas täte, täte sie niemals wieder etwas.
    Wie von selbst wanderten Janes Finger zum Haar und pflückten das Gänseblümchen heraus, das Rocket ihr vorhin geschenkt hatte. Sie blickte auf die Blüte hinab, schloß die Finger darum und zermalmte die Blütenblätter.
    »Wie rasch kann es hier sein? Oh, und auch ein Seidenkissen!«
    Jane starrte auf ihre Hände herab, konzentrierte sich auf Rockets wahren Namen und sprach eine Anrufung. Einen derart mächtigen Spruch hatte sie nie zuvor versucht, aber sie kannte die Theorie in- und auswendig. Tetigistus, flüsterte sie in der arktischen Stille ihres Rautenhirns. Komm her!
    Jouissant fuhr herum, das Telefon in der Hand. »Was hast du getan?« schrie sie. »Du hast etwas getan! Was?«
    Jane lächelte unbestimmt zu ihr hoch. Die Anrufung hatte sie die letzte Willenskraft gekostet. Sie war völlig passiv. Ihr fehlte sogar der Wille zu sprechen.
    Auf der Treppe erklangen Fußtritte. Die Tür öffnete sich, und Rocket trat gebieterisch ein.
    Er erfaßte die Lage mit einem Blick und handelte ohne Zögern. Fast zu rasch, um ihm dabei zu folgen, schritt er zu Jouissante und schlug ihr das Telefon aus der Hand. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, warf sich auf ihn, zog ihm die Fingernägel durch das Gesicht und

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