Die Tochter des Tuchhandlers
Brief auf andere Weise in seinen Besitz gebracht. Der Brief hatte keinen Adressaten. Wieder sah sie den verzweifelten Alberto Mari auf dem Fest vor sich. Sein Dilemma war, dass Flamini, der Geheimsekretär von Clemens, ihn ausgeschickt hatte, den Mörder von Agozzini zu suchen, denn die päpstliche Botschaft hatte ihren Empfänger nie erreicht. Weder Flamini noch Mari wussten, wer ihr Verbündeter hier in Lucca war. Was wussten Federico oder Tomeo? Vielleicht hatte der Papst seine Spione schon lange vorher ausgeschickt, um einen willigen Verbündeten für seinen Plan zu finden. Geld und Macht waren immer verlockende Köder. Aber dann war Agozzini ermordet worden, und die Rebellion der Poggios war gescheitert. Das musste den lucchesischen Verräter verschreckt haben. Der Mann war klug und vorsichtig. Er hatte es verstanden, seine Identität zu verbergen, und wartete ab, bis die Lage sich entspannt hatte. Federico war zu impulsiv. Nein, ihm traute sie geduldiges Taktieren nicht zu. »Was ist dieser Brief wert?«
»Vor Gericht hätte er keinen Bestand. Es gibt keinen eindeutigen Verfasser, und der Vatikan würde alles leugnen und als Fälschung und Lüge abtun. Doch hier in Lucca könnte es gefährlich für jemanden werden â¦Â«
»Aber wer in Lucca könnte Nutzen davon haben, Alessandro deâ Medici in Florenz an die Macht zu bringen?«
Der Buchhalter murmelte nachdenklich: »Die Frage ist, was er dafür erwarten kann â¦Â«
»Wir haben nur reiche Kaufleute in Lucca. Was könnte einer von denen wollen, noch mehr Geld?«, flüsterte Beatrice zweifelnd.
Entschieden schüttelte Nardorus den Kopf. »Es gibt Menschen, die wollen immer mehr, von allem. Rache ist ein starkes Motiv. Verschmähte Liebe. Alles ist möglich. Aber eines haben wir noch gar nicht gefragt â woher hat Ser Buornardi den Brief?« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
DrauÃen wurde es unruhig. Jemand schlug gegen die Tür. »Was ist denn da drinnen los? Die Signora sucht ihren Mann, und wir haben gesehen, wie er gestürzt ist.«
Ohne nachzudenken, stopfte Beatrice das gefährliche Schreiben tief in den Ausschnitt ihres Kleides. Sie konnte nicht umhin, wieder an Federico zu denken. Hatte er nicht selbst gesagt, dass er seine AuÃenstände mit ihrer Mitgift beglichen hatte? Aber er war kaisertreu und kein feiger Mörder, genau wie Tomeo. Nein, keiner von beiden konnte den Legaten getötet haben, nicht in der Nacht vor ihrer Hochzeit. Damit hätten sie einen unerhörten Frevel begangen, und diese Ehe wäre verflucht. Einen päpstlichen Legaten in einem Dom zu ermorden war gleichbedeutend mit dem direkten Weg ins Fegefeuer und wurde entsprechend grausam bestraft. Sie ergriff die Hände des Buchhalters und sah ihm fest in die Augen. »Kein Wort hierüber, zu niemandem! Ich werde herausfinden, wie der Brief in Ser Buornardis Hände gelangt ist, und wir sollten fürs Erste keine Vermutungen anstellen â¦Â«
»Ser Buornardi muss gedacht haben, dass einer seiner Söhne etwas mit dem Mord zu tun hat ⦠Und es hat ihm das Herz gebrochen â¦Â« Traurig sah Agostino Nardorus auf die Leiche seines Herrn, dem er viele Jahre treu gedient hatte.
»Das kann und will ich nicht glauben.«
Erneut hämmerte jemand an die Tür. Die schrille Stimme des maestro di casa ertönte: »Ãffnet die Tür! Auf der Stelle, oder wir brechen sie auf!«
Beatrice nickte, und Nardorus entriegelte die massive Holztür, um eine zornige Lorenza Buornardi einzulassen, gefolgt von Pietro Farini und der neugierigen Dienerschaft.
XI
Genua, Mai 1525
Die Frau stöhnte und wand sich in wollüstigem Erschauern unter den Händen des über ihr knienden Mannes, der sie plötzlich loslieà und sich zur Seite warf. Livia Fiorentina, die begehrteste Kurtisane von Genua, verzog beleidigt den Mund, drehte sich nach ihrem Liebhaber um und wollte sich über dessen Lenden beugen, wurde jedoch unsanft zurückgestoÃen. »Was ist los mit Euch, Tomeo? Gehorcht Euch die Rute nicht?«
»Haltet den Mund, Weib! Ihr wisst nicht, wie es ist, im Krieg zu sein. Euch verfolgen nicht die Toten der Schlachtfelder mit ihren Schreien, den abgetrennten GliedmaÃen und Gedärmen, die aus aufgeschnittenen Leibern quellen und von Gewürm zerfressen werden und â¦Â«
»Hört auf! Es tut mir leid. Es sieht
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