Die Todesbotschaft
aufgeflogen sind, unantastbarer gefühlt haben. Und mächtiger. Nach dem Motto: Uns bringt niemand zu Fall. Irgendwann wird diese Vorstellung ihr Denken bestimmt haben.« Er klang wie jemand, der noch nicht einmal den beschwerlichsten Teil seiner Reise hinter sich gebracht hatte und sich zu fragen schien, wie er in seinem Zustand den Rest bewältigen sollte.
»Aber Tobias hätte wissen müssen, was da vor sich ging«, gab ich zu bedenken. »Selbst in seiner Abteilung wird es nicht zum Tagesgeschäft gehören, dass Mitarbeiter einfach spurlos verschwinden, wenn sie gerade erst solch explosives Material in ihren Besitz gebracht haben. Und er wusste, wie explosiv es ist. Immerhin wäre dieser Stammkunde für sehr lange Zeit hinter Gittern gelandet, sollte er tatsächlich auf den Filmen zu erkennen sein. Deshalb hätte schon bei der ersten Todesanzeige klar sein müssen, worum es hier geht.«
»Das war es wohl auch«, sagte Adrian und setzte sich auf, um sich gegen das Kopfende des Bettes zu lehnen. »Aber Tobias war etwas anderes wichtiger«, sagte er in einem Tonfall, der seine tiefe Erschütterung ahnen ließ. »Mein Vater schreibt, Tobias habe auf der DVD , die Hartwig Brandt ihm vorgespielt hatte, etwas erkannt, was er durch den Diebstahl weiterer Datenträger zu verifizieren hoffte. Und …«
»Ja, den Stammkunden«, unterbrach ich ihn.
Er nickte. »Aber eben nicht ausschließlich. Lies es selbst, dann verstehst du, was ich meine.«
Ich stand auf, um mir Carls Bericht vom Tisch zu holen.
Wir sind mit Tobias hart ins Gericht gegangen
, las ich.
Hätte er uns rechtzeitig eingeweiht, hätten wir auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, womit er sich da gerade befasste, wäre allen Beteiligten viel Leid erspart worden. Wir hätten dafür gesorgt, dass die DVDs unverzüglich zurückgegeben werden. Vielleicht hätte dieses Schwein trotz alledem seine Macht über uns alle demonstriert, so wie er es schließlich bei Amelie getan hat. Aber dann hätte es einen Toten gegeben und nicht vier.
Nur einen anstatt vier – wie simpel das klang. Ich fragte mich, ob die Unmengen von Whiskey, die Carl vor seinem Tod konsumiert hatte, zu dieser Abstumpfung beigetragen hatten, oder ob er schon immer so gewesen war.
Es ist nicht so, dass wir anderen völlig blauäugig waren. Nach Huberts und Cornelias Tod hat Johannes Tobias gefragt, ob es irgendetwas gebe, was wir anderen wissen sollten. Das war der Zeitpunkt, zu dem Johannes die Todesanzeige für Kerstin unter seinem Scheibenwischer gefunden hatte. Tobias gab uns zur Antwort, es gebe nichts, das über das übliche Tagesgeschäft hinausgehe. Erst als auch Kerstin umgebracht worden war und wir ihn massiv unter Druck gesetzt hatten, hat er uns in die Vorgänge eingeweiht.
Die Umstände, die hier aufeinandertrafen, lassen sich nur als fatal bezeichnen. Beginnend bei Hartwig Brandt, der dieses Filmmaterial nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Und endend bei Tobias, der nicht nur diesen Stammkunden, einen früheren Freund von uns allen, darauf erkannt hatte, sondern auch ein Detail, das für ihn alles andere in den Schatten stellte. Das ihn die Todesdrohungen gegen unsere Kinder ignorieren ließ. Unvorstellbar. Und dennoch nachvollziehbar, so schwer es mir fällt, dies so zu Papier zu bringen.
Letztlich drehte sich für ihn alles um Mathilde, seine Verlobte, die ein paar Wochen vor ihrer gemeinsamen Hochzeit vor fast vierunddreißig Jahren einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Tobias hat ihren Tod nie verwunden. Er hat nie aufgegeben, nach Spuren zu suchen, die ihn zu dem Täter hätten führen können, dem in den Folgejahren wegen der jeweils gleichen Handschrift noch zwei weitere Morde angelastet wurden. Bei den Opfern handelte es sich ausnahmslos um junge, blonde, grazile Frauen, die auf die immer gleiche Weise umgebracht wurden: erwürgt mit einer schmalen Gliederkette, die eigentlich als Würgehalsband für Hunde konstruiert war. Dieses Detail spielte auch bei den Morden, die auf den DVDs festgehalten waren, eine entscheidende Rolle. Und auch dort waren die Opfer jung, blond, zart.
Es ist mir unmöglich, Tobias für das, was er uns allen mit seinem langen Schweigen angetan hat, nicht zu verdammen. Ich kann nachvollziehen, was in ihm vorgegangen sein muss, als er die erste der DVDs sah. Aber in meinen Augen wird es niemals zu einer Rechtfertigung reichen. Keine der Frauen, die zu Tode gekommen sind, hätte er wieder lebendig machen können. Weder Mathilde noch
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