Die Todesbotschaft
verliebt hatte, und nicht jemand, der den Nachnamen Radolf trug, hätte ich sicherlich nicht geöffnet, sondern dieses Kapitel so schnell wie möglich abgeschlossen. Aber so blieb mir keine Wahl.
Nachdem ich den Türöffner betätigt hatte, verzog ich mich wieder auf meine Schaukel und wartete. Mein Herzschlag war überdeutlich zu spüren. Ich konnte mich aber auch nicht erinnern, wann er zuletzt zur Ruhe gefunden hatte.
Niklas alias Richard brauchte nicht lange, um mich zu finden. Ohne ein Wort zu sagen, blieb er im Türrahmen stehen und sah mich eine kleine Ewigkeit lang nur an. »Hallo, Finja«, sagte er schließlich. »Richard ist mir leider zuvorgekommen. Ich hätte mich dir gerne selbst noch einmal vorgestellt. Ich …«
»Stell dich vor«, unterbrach ich ihn. »Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen wird.«
Er ging ein paar Schritte auf mich zu, stoppte dann jedoch so abrupt, als sei er gegen eine Wand gelaufen. »Ich heiße Niklas Radolf, Nick für meine Freunde, bin neununddreißig Jahre alt, arbeite in Hamburg als Wirtschaftsjournalist, bin derzeit schwer verliebter Single und …«
»Ein schwer aktiver Lügner.« Es gelang mir kaum noch, meine Tränen zurückzudrängen.
»Ja, stimmt, das bin ich auch. Aber vielleicht kannst du mich verstehen, wenn ich dir erkläre, warum …«
»Warum du als Richard Stahmer Kontakt mit mir aufgenommen hast, warum du so getan hast, als interessiertest du dich für meine Bilder? Für mich?«
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich so, dass wir uns ansehen konnten. »Lass es mich erklären, Finja, bitte. Vor kurzem ist meine Mutter in ein Pflegeheim umgesiedelt. Sie ist demenzkrank und kam zu Hause nicht mehr allein zurecht. Also habe ich damit begonnen, ihre Wohnung auszuräumen. Dabei sind mir Tagebücher meines Vaters in die Hände gefallen. Er ist vor fünf Jahren gestorben. Sagt dir der Name Wendelin Radolf etwas?«
Ich hob die Schultern, um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen.
»Er war mein Vater und hat mehrere Jahre als Nervenarzt in einer Klinik am Tegernsee gearbeitet, bevor er sich in Hamburg niederließ, um dort noch fast zwei Jahrzehnte zu praktizieren. Erst durch die Tagebücher habe ich erfahren, warum meine Eltern damals die Zelte am Tegernsee abgebrochen haben. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten je mit mir darüber gesprochen.«
»Ich schätze, mein Vater hatte deinem genügend Geld für einen Neuanfang in den Rachen geschoben und sich damit einer gewissen Gegenleistung versichert.«
Niklas schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum, dass Geld ihn so nachhaltig geprägt hätte, wie es die Entführung seines Sohnes schließlich getan hat«, hielt er mir in schneidendem Ton entgegen.
Unfähig ein Wort herauszubringen, starrte ich ihn einfach nur an.
»Eine junge Frau namens Gesa Minke war für ein paar Wochen Vaters Patientin gewesen, wie er in einem seiner Tagebücher schreibt. Sie war achtzehn damals, er beschreibt sie als sehr sympathisch, allerdings habe sie ihm lange Zeit Rätsel aufgegeben. Angeblich habe sie aus unerwiderter Liebe zum Vater ihres Kindes versucht, erst ihr Baby und dann sich zu töten. Aber je länger er sie behandelt habe, desto stärker seien ihm an der Version ihrer Familie Zweifel gekommen. Deshalb habe er den ehemaligen Liebhaber der jungen Frau und Vater des Kindes, der die Tat angeblich entdeckt haben wollte, zu einem Gespräch gebeten. Der Mann habe jedoch an dem, was er gesehen zu haben glaubte, nicht rütteln lassen. Zwei Tage später sei dann ich für acht Stunden verschwunden. Eben hätte ich noch im Garten gespielt, im nächsten Moment sei ich unauffindbar gewesen.« Niklas ließ den Blick sekundenlang auf seinen Händen ruhen.
»Für meine Eltern müssen es endlos lange Stunden gewesen sein«, fuhr er fort. »Sie sind fast verrückt geworden. Hätten sie nicht so extrem reagiert, als ich wieder vor unserer Haustür stand, würde ich mich heute wahrscheinlich gar nicht mehr an den Tag erinnern. Ich habe ihn mit einem netten Mann verbracht, der sich wirklich Mühe gegeben hat, dass mir nicht langweilig wurde. Ein paar Tage darauf kreuzten sich die Wege unserer Väter ein weiteres Mal. Alexander Benthien hat laut Tagebucheintrag sein Bedauern über diesen schrecklichen Vorfall ausgedrückt, bevor er meinem Vater zu verstehen gab, so etwas könne jederzeit und an jedem Ort wieder geschehen – mit ungewissem Ausgang. Zum Schluss trug er ihm noch auf, ihm die Unterlagen über die
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