Die Todesbotschaft
Toilettenpapier, Kopierpapier und so weiter. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt. Wenn du in einem Fall von derartig klarer Beweislage tatsächlich die Möglichkeit hast, jemandem zu kündigen, warum solltest du es nicht tun? Versuche mal, jemanden wegen mangelnder Leistung loszuwerden. Da ist es sehr viel schwieriger mit den Beweisen. Solange unser Kündigungsrecht die Belange von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht ausgewogen berücksichtigt, werden eben solche Bagatell-Kündigungsgründe vorgeschoben, wenn man einen Faulenzer nicht anders loswerden kann.«
»Aber ihr installiert keine Kameras auf Toiletten, oder?«
Mein Vater sah mich durch den Rückspiegel an. »Wir prüfen sehr genau, welche Aufträge wir annehmen und welche wir ablehnen. Aber wir müssen auch wirtschaftlich denken, wenn wir am Ende des Monats unsere Mitarbeiter bezahlen wollen. Übertriebene Moral ist da kein guter Ratgeber.« Er nahm die Frage, die mir ins Gesicht geschrieben stand, auf. »Keine Sorge, alles weitestgehend im legalen Rahmen. Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren. Wenn ein Kunde mit überhöhten Vorstellungen zu uns kommt, bringen wir ihn sanft auf den Boden der Realität, sprich des Machbaren.«
Während mein Vater in Bad Wiessee am Fuß des Bergfriedhofs einen Parkplatz suchte, überlegte ich, was genau er damit gemeint hatte: weitestgehend im legalen Rahmen. Weitestgehend war ein dehnbarer Begriff. War ich tatsächlich eine so realitätsblinde Idealistin?
Wir stiegen aus und folgten den schwarz gekleideten Menschen, die sich, je weiter sie sich der Kirche Mariä Himmelfahrt näherten, zu einem Strom formierten. Meine Eltern hatten mich in die Mitte genommen.
»Vorhin in den Nachrichten … ging es da um euren früheren Steuermann?«, fragte ich meinen Vater.
Meine Mutter kam ihm mit einer Antwort zuvor. »Thomas H. Niemeyer.« Mit der Art, wie sie das H betonte, reihte sie ihn nicht nur nahtlos in die Riege der von ihr belächelten Emporkömmlinge ein – sie schien mich gleichzeitig vor dieser Spezies warnen zu wollen. »Zu Ruderzeiten hatte er sich das H noch nicht zugelegt. Das tauchte erst auf, als er sich die Erbin eines Familien-Imperiums geangelt hatte. Von Ehrgeiz besessen, aber ein kluger Stratege, das muss man ihm lassen. Er wollte an die Spitze und hat es ja allem Anschein nach auch geschafft. Hast du eigentlich mal wieder etwas von ihm gehört?« Sie sah meinen Vater von der Seite an.
»Schon lange nicht mehr.« Beiläufig nickte er jemandem zu, den er kannte.
»Schade. Seine Frau, diese Ruth Carstens-Niemeyer, hat sich zu einer bekannten Kunstsammlerin und Mäzenin gemausert. Erst kürzlich habe ich im Feuilleton etwas über sie gelesen. Du hast vielleicht schon von ihr gehört, Finja. So jemanden kennenzulernen, könnte hilfreich für dich sein.«
»Finja macht ihren Weg auch ohne eine solche Unterstützung«, sagte mein Vater. Er klang ärgerlich.
»Es war nur ein Vorschlag.« Sie senkte den Blick und strich sich am Eingang zur Kirche den Rock ihres Kostüms glatt.
*
Drei Wochen ohne ihr Kind. Es war noch so klein, da waren einundzwanzig Tage eine Ewigkeit. Gesa fragte sich, wer es im Arm hielt, wenn es weinte. Wie viel es gewachsen war. Wie es jetzt aussah. Sie besaß nicht einmal ein Foto. Ein paar Mal hatte sie Doktor Radolf gebeten, ihr eines zu besorgen. Er hatte ihr versichert, sich darum bemüht zu haben – leider erfolglos.
Also hatte Gesa ihr Kind aus der Erinnerung gezeichnet. Es war anstrengend gewesen, und sie hatte mehrere Anläufe dazu gebraucht. Ihr schien es, als habe sie jede Leichtigkeit verloren seit jener Nacht. Ihre schwache Konzentration machte ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Bis die Zeichnung so weit war, dass sie sich traute, sie Doktor Radolf zu zeigen.
»Sehen Sie«, sagte sie bei ihrem nächsten Treffen und schob ihm das Blatt über den Tisch.
Er nahm es, setzte seine Lesebrille auf und tastete sich mit Blicken über das Papier. Nach einer Weile legte er die Brille zur Seite und betrachtete Gesa, als wolle er etwas herausfinden, das sich nicht in Worte fassen ließ. »Das ist eine sehr schöne Zeichnung«, meinte er, als sie auf ihrem Stuhl unruhig wurde. »Mit vielen liebevollen Details.«
Sie atmete auf und versuchte zu lächeln.
»Haben Sie sich das Kind gewünscht, Gesa?«, fragte Doktor Radolf.
Sie runzelte die Stirn und sah auf ihre Finger, weil sie dabei besser denken konnte. Gewünscht? Dieses Wort kam ihr vor wie eine
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