Die Todesbotschaft
noch einmal und verabschiedete mich von der Frau, die mir stets auf liebevoll mütterliche Weise begegnet war. Und die mir eine ihrer Maximen mit auf den Weg gegeben hatte, die mir jetzt wieder in den Sinn kam: »Du kommst nicht durch dein Leben, ohne andere zu verletzen. Wer das glaubt, macht sich etwas vor. Wenn es allerdings geschieht, sollte es allein dem Versuch dienen, dich zu schützen.«
Kurz bevor ich den Parkplatz erreichte, blieb ich stehen, schloss sekundenlang die Augen und stellte mir vor, sie ginge noch einmal ein kleines Stück des Weges neben mir. So schön diese Vorstellung war, so sehr schmerzte sie auch. Tränenüberströmt erreichte ich schließlich meinen Wagen. Während ich mir die Nase schneuzte, klingelte mein Handy. Ich versuchte, normal zu klingen, als ich mich meldete.
»Weinen Sie?«, fragte Richard Stahmer.
Als ich seine Stimme hörte, wurde mir bewusst, wie nah Traurigkeit und Freude manchmal beieinanderlagen. »Was tun denn Sie, wenn Menschen sterben, die Ihnen etwas bedeutet haben?«
»Ich betrinke mich«, antwortete er. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein … danke. Es ist aber nett, dass Sie fragen. Morgen ist die Beerdigung, und Samstag oder Sonntag fliege ich zurück nach Berlin.«
»Das wäre meine nächste Frage gewesen. Sehe ich Sie dann nächste Woche?«
»Montagmorgen, neun Uhr?«
»Ich werde neben der Klingel warten.«
Dieser Satz ging mir durch den Kopf, als ich am Freitag mit meinen Eltern auf dem Weg nach Bad Wiessee zur Beerdigung war. Mit nur sechs Worten war es Richard Stahmer gelungen, eine kleine Insel zu schaffen, auf der ich für einen Moment alles hatte vergessen können.
Auf diese Insel hätte ich mich gerne geflüchtet, als meine Mutter einen Disput mit meinem Vater vom Zaun brach, weil er das Radio einschaltete, um die Nachrichten zu hören. Er sei pietätlos, ob er nicht wenigstens an diesem Tag darauf verzichten könne. Sie solle es mal nicht übertreiben mit ihrer Pietät, bekam sie zur Antwort. Durch den Verzicht auf die Nachrichten würden die beiden auch nicht wieder lebendig. In solchen Momenten tat sie mir leid.
Es fiel mir schwer, meine Ohren gegen die Meldungen über Mindestlöhne, Opel und irgendein Kartell zu verschließen. »Ich finde, Mutter hat recht«, sagte ich schließlich von der Rückbank.
»Bitte, Finja! Ich möchte das hören.« Erbarmungslos drehte er das Radio lauter.
Es folgte der Bericht über eine internationale Unternehmensgruppe. Die in München und Zürich residierende Firma Carstens plane die Übernahme von
Drehse Biotech
. Der Aufsichtsratsvorsitzende Thomas H. Niemeyer habe sich dazu jedoch auf Anfrage nicht äußern wollen.
»Thomas Niemeyer – das ist doch …«, begann ich, um von meinem Vater augenblicklich wieder zum Schweigen gebracht zu werden. Innerlich stöhnte ich auf und sah aus dem Fenster, während die Nachrichtensprecherin über einen Discounter berichtete, der seine Mitarbeiter von einer Detektei hatte überwachen lassen. Die Gespräche der Leute im Personalraum seien abgehört und selbst auf den Toiletten wären sie von versteckten Kameras gefilmt worden. Als er das Radio endlich ausschaltete, atmeten meine Mutter und ich hörbar auf.
»Bekommt ihr solche Anfragen auch manchmal?«, sprach ich ihn auf die letzte Meldung an.
»Die gehören zum Tagesgeschäft«, antwortete er. »Die Fälle, die bekannt werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. In den Medien entsteht allerdings oft ein falsches Bild. Da geht es nur noch um die bösen Arbeitgeber, die ihre untadeligen Mitarbeiter ausspionieren. In den Augen der Öffentlichkeit ist dieser Mitarbeiter selbst dann noch untadelig, wenn er aus dem Betrieb ein Pfund Kaffee mitgehen lässt. Wegen solcher Bagatellen dürfe doch niemandem fristlos gekündigt werden, heißt es dann schnell. Wo denn da die Verhältnismäßigkeit bleibe? Ein …«
»Die Frage finde ich berechtigt«, wandte ich ein. »Natürlich kannst du immer argumentieren, Diebstahl sei Diebstahl, aber bei einem Pfund Kaffee könnte man doch erst einmal mit einer Abmahnung beginnen.«
Mein Vater winkte ab. »Erstens kannst du davon ausgehen, dass es in der Regel nicht bei einem Pfund bleibt. Es gibt Unternehmen, die haben einen so hohen Kaffeeverbrauch pro Mitarbeiter, dass eigentlich alle längst an Koffeinvergiftung gestorben sein müssten. Also kannst du darauf wetten, dass einige Mitarbeiter mit dem Firmenkaffee ihren Privatbedarf decken. Dazu kommt rollenweise
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