Die Todesbotschaft
Bedrohliches war hier im Gange. Innerhalb von acht Tagen waren drei Menschen eines nicht natürlichen Todes gestorben. Und der vierte Mensch, so stand es in dem Brief, sollte in zwei Tagen umkommen.
Ich sah meinen Vater erst kurz vor dem Abendessen wieder. Meine Mutter und ich saßen auf der Terrasse und warteten auf ihn, als wir seinen Wagen vorfahren hörten. Ich lief ins Haus, durchquerte eilig Wohnzimmer und Halle und öffnete ihm die Tür. Er war jedoch so tief in Gedanken, dass er mich erst wahrnahm, als er ein paar Schritte von mir entfernt den Kopf hob.
»Finja …« Es klang erschöpft, wie die Bitte, ich möge ihm einen Moment Ruhe gönnen.
Seinen Wunsch ignorierend versperrte ich ihm den Weg. »Paps, wir müssen unbedingt über diese Todesanzeige sprechen. Ich kann nicht einfach so darüber hinweggehen, als gebe es sie nicht. Hast du sie gelesen?«
Vermutlich aus Sorge, meine Mutter könne uns hören, zog er mich von der Tür fort und senkte die Stimme. »Selbstverständlich habe ich diesen Schmutz gelesen. Und genauso selbstverständlich habe ich ihn dem Müll übereignet. Da gehört er nämlich hin.«
»Aber ich …«
»Hör zu«, fiel er mir ins Wort, »in unserem Geschäft wird in letzter Zeit mit deutlich härteren Bandagen gekämpft. Da kommt es dann leider Gottes auch vor, dass sich uns übelgesinnte Konkurrenten mit geschmacklosen Aktionen hervortun. Das ist jedoch nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen solltest.«
Er konnte mir viel erzählen, aber dass etwas so Alltägliches wie Konkurrenzdruck für eine solch widerwärtige Todesbotschaft verantwortlich sein sollte, glaubte ich keine Sekunde lang. »Selbst wenn es stimmt, was du sagst, ist es ein Fall für die Polizei. Wenn du dort nichts über diesen Brief erzählst, werde ich es tun. Was stand überhaupt in den anderen Briefen? Ging es da um Kerstins Tod?« Meine Stimme zitterte.
Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, als habe ich von zwei möglichen Wegen ausgerechnet den gewählt, der mich in eine Sackgasse führen würde. Und das, obwohl ein Schild gut sichtbar darauf hingewiesen hatte. »Es steht dir selbstverständlich frei, Finja, dich an die Polizei zu wenden. Allerdings wirst du damit rechnen müssen, dass man dir nicht glauben wird. Dein Wort wird gegen meines stehen. Und ich genieße bei Polizei und Justiz seit Jahren einen unangefochten guten Ruf. Die Arbeit, die
BGS&R
leistet, wird dort hoch geschätzt.« Sein gelassener Tonfall verlieh seinen Worten ein noch größeres Gewicht.
Ich starrte ihn an und erkannte, wie ernst es ihm damit war. Er würde von seinem Standpunkt nicht einen Millimeter abweichen. »Ist dir Amelies Leben so wenig wert?«, schrie ich ihn an. »Willst du zulassen, dass auch sie einem Unfall zum Opfer fällt wie die anderen?« Wie ungeheuerlich dieser Gedanke war, begriff ich erst, als ich ihn ausgesprochen hatte. Und ich begriff, dass ich meinen Vater nicht erreichte.
Er hörte, was ich sagte, aber es schien ihn nicht zu berühren. Er machte den Eindruck eines Menschen, der sich inmitten einer Katastrophe jede Emotion verbot, um funktionsfähig zu bleiben. »Wollen wir hinausgehen?«, fragte er. »Ich nehme an, deine Mutter wartet bereits.« Er legte den Arm um meine Schultern und zog mich mit sich.
Als wir auf der Terrasse ankamen, schob er mich zu meinem Stuhl und begrüßte meine Mutter. In ihrer Miene zeichnete sich eine Mischung aus Erleichterung und Verunsicherung ab. Ich betrachtete sie und fragte mich, was in ihr vorging. Zwei der Partner ihres Mannes hatten innerhalb von nur acht Tagen ein Kind verloren. Machte ihr das keine Angst? Ich war fast verrückt vor Angst, seitdem ich Amelies Todesanzeige gelesen hatte.
Doch meine Mutter schien beschlossen zu haben, ihre Sorge damit zuzuschütten, dass sie uns einen wortreichen Vortrag über die Schwierigkeit hielt, wirklich gut abgehangenes Roastbeef zu bekommen. Das, was auf unseren Tellern zubereitet war, genüge bei weitem nicht ihren Ansprüchen – obwohl es ihr bei einem Münchener Metzger als Spitzenqualität verkauft worden sei. Als mein Vater sie fragte, warum sie nicht in Rottach-Egern zu ihrem Stamm-Metzger gegangen sei, blendete ich mich gedanklich aus. Da ich beim besten Willen nichts herunterbekommen konnte, entschuldigte ich mich und floh in mein Zimmer.
Oben angekommen öffnete ich leise das Fenster, das über der Terrasse lag. Ich konnte meine Eltern nicht sehen, da die Markise ausgefahren war, aber ich
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