Die Todesbotschaft
hermachten. Nach dem Essen sahen wir uns gemeinsam Fotos von Kerstin an. Sie in die Kamera lächeln zu sehen, tat unglaublich weh, und doch waren wir froh, dass es diese Bilder überhaupt gab. Nur an die von unserer Wanderung zur Königsalm trauten wir uns noch nicht heran. Der richtige Zeitpunkt dafür würde irgendwann kommen.
»Versprichst du mir etwas?«, fragte Amelie, bevor sie gegen elf Uhr schlafen ging. »Wirst du bis zur Geburt unseres Babys eine der Kinderzimmerwände mit einer Märchengeschichte bemalen?«
»Schneewittchen oder Das tapfere Schneiderlein?«
»Das überlasse ich dir«, antwortete sie mit einem Lächeln, drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand im Schlafzimmer.
Eine halbe Stunde später wollte auch ich gerade zu Bett gehen, als Adrian erschöpft von dem Besuch bei seinem Vater zurückkehrte. Er habe versucht, ein ernsthaftes Gespräch über Alkohol mit ihm zu führen, irgendwann jedoch eingesehen, dass es sinnlos sei. Sein Vater habe sich ganz offensichtlich für diese Form der Trauerbewältigung entschieden, und es sei nicht an ihm, dem alten Mann die Flasche mit Gewalt zu entreißen.
Ich leistete ihm noch eine Stunde bei einem Glas Weißwein Gesellschaft, bis mir fast die Augen zufielen. Es war nach Mitternacht, als ich ihre Schlafzimmertür öffnete, um mich zu vergewissern, dass mit Amelie alles in Ordnung war. Im Schein des Lichts, das vom Flur auf ihr Gesicht fiel, sah sie rosig aus. Ihr Bauch hob und senkte sich unter der Decke im gleichmäßigen Rhythmus ihres Atems. Sie so zu sehen, beruhigte mich ungemein. Mein Blick fiel auf den Nachttisch, auf dem die winzigen Söckchen lagen, die Cornelia kurz vor ihrem Tod für das Baby gestrickt hatte. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich die Tür leise wieder schloss und Richtung Gästezimmer ging. Ich empfand es als eine Erlösung, dass Amelies vermeintlicher Todestag ohne besondere Vorkommnisse ins Land gezogen war.
In aller Herrgottsfrühe war ich am Montagmorgen aufgestanden und hatte mich in die erste Maschine nach Berlin gesetzt, um es rechtzeitig zu meiner Verabredung mit Richard Stahmer zu schaffen. Es war ein unruhiger Flug mit vielen Turbulenzen, aber davon nahm ich kaum etwas wahr. Noch immer kreisten meine Gedanken um die zurückliegenden zwei Wochen. Mir wurde bewusst, wie sehr die drei Todesfälle mein Urteilsvermögen getrübt hatten.
Als ich mit zehnminütiger Verspätung vor Richard Stahmers Haus ankam, fühlte ich mich wie jemand, der während einer Schrecksekunde die Luft angehalten hatte, um schließlich ganz tief ein- und langsam wieder auszuatmen. Erleichtert und fast ein wenig beschwingt lief ich die Treppen bis zu seiner Wohnung hinauf.
Mit dem Handy am Ohr öffnete er mir die Tür, formte mit den Lippen ein stummes Hallo und gestikulierte, ich solle ins Esszimmer vorausgehen, bevor er den Flur entlang in die entgegengesetzte Richtung ging. Ich sah ihm hinterher, wie er barfuß in seinen an den Säumen ausgefransten Jeans und einem verwaschenen T-Shirt, das irgendwann einmal weinrot gewesen sein musste, einen Fuß vor den anderen setzte, als balanciere er auf einem Schwebebalken.
Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in den von einem Barockrahmen gehaltenen großen Spiegel, der an der Flurwand lehnte. Da ich an diesem Tag erst noch die Planquadrate fertigstellen musste, bevor ich am Dienstag mit Farben arbeiten würde, trug ich ein buntgeblümtes Minikleid über einer engen Jeans. Meine Haare fielen offen auf die Schultern. Ich stellte die Leiter auf und setzte mit Blick auf die Skizze den Bleistift dort an, wo ich vor zwei Wochen aufgehört hatte.
»Ich habe Sie vermisst, Frau Benthien«, sagte Richard Stahmer von der Tür her.
In meinem Bauch machte sich so eine Art Strömungsgefühl bemerkbar. Außerdem merkte ich, wie ich rot anlief. In einem inneren Monolog hielt ich mir einen Vortrag, dass jeder Mensch Vermissen ganz individuell definierte, es also so gut wie gar nichts bedeuten musste, und er vielleicht einfach nur versuchte, freundlich zu sein oder sich originell zu geben. Mit dem Rücken zu ihm zog ich weiter meine Linien.
»Frau Benthien? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«
»Klar und deutlich.«
»In einem Winkel meiner Seele hatte ich ehrlich gesagt gehofft, Sie hätten mich auch ein kleines bisschen vermisst.« Er spielte mit seiner Stimme wie auf einer Klaviatur.
»Vermisst man nicht nur, was einem ans Herz gewachsen ist?«
»Es soll Leute geben, die fallen sich
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