Die Todesbotschaft
auf, die wir besser nicht gerufen hätten?
»Männer wie uns gibt es viele. Aber etwas Schlechtes wird nicht gut, nur weil es in der sogenannten besseren Gesellschaft geschieht. Wie viele andere haben wir das rechte Maß aus den Augen verloren. Und das schon vor langer Zeit. Damals waren wir so alt wie ihr. Wir waren hungrig und glaubten, einen Anspruch auf die größten Stücke des Kuchens zu haben. Wir waren eitel, wollten Erfolg und Anerkennung – diesen besonderen Kick, der aus großen Erfolgen erwächst. Dieser Kick hat etwas von einem Belohnungssystem, genau wie Macht. Dafür haben wir Tabus gebrochen. Fängst du bei einem an, lösen sich die anderen mit einem Mal in Luft auf. Von da an lässt sich jede Schranke überwinden.« Sein Brustkorb hob und senkte sich in einer Weise, als habe ihn das Reden zu sehr angestrengt.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht so viel sprechen, Carl.«
Eine Weile hielt er sich daran und sah aus dem Fenster. Aber seine Augen schienen dabei nichts zu erfassen. Es war mehr ein Blick nach innen. »Es heißt immer, Wissen sei Macht, Finja. Aber es gibt Menschen, die sind mächtiger. Und skrupelloser.«
*
Die Hoffnung auf ein gutes Leben hatte Gesa längst aufgegeben. Sie verdiente es nicht. Nicht nach dem, was sie getan hatte. Dennoch gab es etwas, das sie sich wünschte: unbeobachtet zu sein, in die Anonymität abtauchen und selbst entscheiden zu können, wo und wie sie lebte. Um zu sich zu finden oder sich vielleicht ganz neu zu erfinden. Um eines Tages einen Zug zu besteigen, der sie in die Nähe ihrer Tochter brachte. Wenigstens sehen wollte Gesa sie.
Damit ihr das gelang, musste sie Alexander entkommen. Ihr Plan würde Zeit in Anspruch nehmen, denn er durfte keinesfalls auffliegen. Eine zweite Chance würde sich ihr vielleicht nicht so schnell wieder bieten.
Allen Plänen zum Trotz gab es immer wieder Momente, in denen sie sich auch nach Alexander sehnte, in denen sich ihre Phantasien verselbständigten und ihr wider jede Vernunft eine gemeinsame Zukunft ausmalten. In solchen Momenten versuchte sie mit aller Macht, sich auf andere Gedanken zu bringen. Wollte sie Finja jemals wiedersehen, musste Alexander sie aus den Augen verlieren.
Ihr Plan war ebenso einfach wie effektiv. Und es war nicht schwer, ihn in die Tat umzusetzen. Er forderte ihr bloß Geduld und Zeit ab. Letztlich ging es darum, regelmäßig Geld von ihrem Konto zu holen und es scheinbar mit vollen Händen auszugeben. Hob sie allerdings zweihundert D-Mark ab, blieben einhundertfünfzig in ihrem Portemonnaie und wanderten zu Hause in ihren Sparstrumpf. Mögliche Beobachter sollten glauben, sie habe alles Geld ausgegeben, wenn sie mit prall gefüllten Tüten von ihren Streifzügen durch die Kaufhäuser zurückkehrte. Dass sich in den Tüten nur billigste Waren befanden, war ihnen von außen nicht anzusehen.
Alexander überwies ihr regelmäßig Geld auf dieses Konto. Da sie nicht wusste, ob er auch Einblick in die Kontobewegungen hatte, setzte sie ihren Plan, so viel Bargeld wie möglich anzusparen, nur ganz langsam in die Tat um. Sie fing mit kleinen Beträgen an, um sie nach und nach zu erhöhen. Es sollte so aussehen, als sei sie auf den Konsumgeschmack gekommen.
Manchmal fragte sie sich, ob es diese Beobachter tatsächlich gab, oder ob Alexander sich darauf verließ, Gesa durch reines Vorgaukeln an unsichtbaren Fäden lenken zu können. Vielleicht hatte er seine Leute längst abgezogen. Gesa wusste, sie würde mit dieser Ungewissheit leben müssen, wenn sie nichts riskieren wollte.
An dem Tag, an dem sie überzeugt war, genügend Geld für einen Neuanfang zusammengespart zu haben, ging sie dazu über, den zweiten Teil ihres Planes umzusetzen. Sie kaufte eine Zeitung, setzte sich damit sichtbar in ein Café und studierte die Stellenangebote. Es sollte so aussehen, als sei sie auf der Suche nach einer Arbeit als Kellnerin. Und so tat sie schließlich tagelang nichts anderes, als sich in verschiedenen Kneipen als ungelernte Kraft zu bewerben. Sie betrat die Lokale, brachte die Bewerbungsgespräche hinter sich und ging wieder. Bis sie eines der Lokale durch den Hinterausgang verließ. In ihrer Tasche das Bargeld, ihren Ausweis und die zusammengefalteten Bilder von Finja.
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13
D en zweiten Herzinfarkt, den Carl in der folgenden Nacht erlitt, überlebte er nicht. Er starb in der halben Stunde, die Adrian und ich an der frischen Luft verbrachten. Als habe er seinem Sohn die Last nicht aufbürden wollen,
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