Die Todesspirale
anzusprechen. Jedenfalls hatte er mich fast von Anfang an geduzt, und ich hatte es ihm gleichgetan.
«Über die Grigorievs?» Rami spitzte die Lippen, die Fältchen um seinen Mund tanzten. «Wieso? Anton ist doch schon vor Jahren gestorben.»
«Und zwar unter rätselhaften Umständen. Was für ein Mann war er? War die Ehe glücklich?»
Rami goss sich Mineralwasser ein, trank das Glas halb leer und drehte es in den Händen.
«Glücklich … Wie misst man Glück? Viele russische Eis-laufpaare sind miteinander verheiratet, zumindest damals war es so. Elena und Anton sind bereits als Kinder gemeinsam gelaufen, und als sie heirateten, waren sie knapp zwanzig. Elena hatte davon geträumt, Ballerina zu werden, und Anton wollte Eishockey spielen, aber du weißt ja, wie es bei den Sowjets war, da konnte man sich seine Sportart nicht aussuchen. Eiskunstläufer wurden quasi fabrikmäßig produ-ziert. Vermutlich hat irgendein Trainer erkannt, dass die beiden talentiert waren und gut zueinander passten. Natürlich war das auch eine Chance für sie. Sie durften ins Ausland reisen, ihr Land vertreten, konnten sich Sachen anschaffen, von denen der Durchschnittsmoskauer nie gehört hatte … Aber um ganz an die Spitze zu gelangen, fehlte ihnen etwas.»
«Nämlich?»
«So was wie der letzte innere Kick. Technisch waren sie hervorragend. Aber Elena wirkte – wie soll ich sagen – ausdruckslos, und Anton eignete sich nur für komische Rollen.
Damals kultivierten die Russen aber einen ausgesprochen klassischen, tragischen Stil.»
«Und nach der Amateurlaufbahn?»
«Wir waren ein Jahr lang in derselben Eisshow, The Magic Skates. Zwar längst nicht so bekannt wie Holiday on Ice, trotzdem hat man bei den Tourneen ganz ordentlich verdient.
Aber dann erwartete Elena ein Kind, und sie sind nach Moskau zurückgekehrt.»
«Irina? Das war also Mitte der Achtziger?»
«Nein … 1980 war das. Damals habe ich in der Show meine erste größere Rolle bekommen. Ich habe ja nie auch nur den dreifachen Lutz geschafft, aber ich wusste, wie man das Publikum zum Lachen bringt …» Ein Anflug von Traurigkeit lag auf seinem Gesicht, vielleicht litt er heute noch, nach zwanzig Jahren, darunter, dass ihm der große Erfolg versagt geblieben war. «Aber um mich geht es ja nicht. Elena hatte eine Fehlgeburt und bekam eine schlimme Infektion. Kran-kenhaushygiene war nicht die stärkste Seite der Sowjets. Damit war es für die Grigorievs aus mit dem Eiskunstlauf. Zum Glück bekam Anton eine Stelle im Sportministerium.»
«Und einige Jahre später wurde Elena erneut schwanger?»
«Genau. Meiner Meinung nach gab ihr die Geburt des Kindes neue Lebenskraft. Sie hatte ja nie eine Ausbildung erhalten, seit ihrem zehnten Lebensjahr war sie nur Schlittschuh gelaufen, wie ein Profi. Trainerin war der einzige Beruf, der ihr offen stand. Sobald Irina laufen konnte, bekam sie ihre ersten Schlittschuhe. Und sie wird irgendwann die erste finnische Weltmeisterin seit über sechzig Jahren sein, jetzt wo … Wo Noora und Janne nicht mehr dabei sind …»
Rami stand auf und trat an das regennasse Fenster. Es dauerte ein paar Minuten, bevor er weiterreden konnte.
«Die beiden hatten nämlich gute Chancen auf den Weltmeistertitel. Von den psychischen Voraussetzungen her war Noora ideal. Sie ging richtig mit, war mutig, offen, musikalisch, kreativ. Sie hatte alles! Der niedrige Körperschwer-punkt hätte das Gesamtbild nicht beeinträchtigt. Janne brauchte nur sauber zu springen und synchron zu laufen.»
Hatte Rami den Erfolg des Paares als Kompensation für seinen eigenen Misserfolg empfunden? Für die Arbeit eines Trainers wäre das keine sonderlich gute Grundlage gewesen.
«Wer hat Elena eigentlich nach Finnland geholt, du oder Tomi Liikanen?»
«Tomi hat den Anfang gemacht, aber letzten Endes war ich es.» Rami trat an den Bücherschrank, öffnete eine der Türen und nahm eine CD heraus. Er sah mich fragend an, ich nickte, obwohl ich das Cover nicht sehen konnte. Cembalomusik perlte aus den Lautsprechern, die Musik kam mir vage bekannt vor, Vivaldi vielleicht.
«Ich habe Elena nach Jahren bei der Junioren WM in Bul-garien wieder gesehen. Der ELV Espoo hatte einen sehr ta-lentierten Jungen hingeschickt, der später leider aufgehört hat, weil er wegen seinem angeblich unmännlichen Sport gehänselt wurde. Aber das gehört nicht zur Sache. Damals, unter den Kommunisten, blieben die meisten Spitzentrainer in der Sowjetunion. Elena hatte das Gefühl, es als
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