Die Toechter der Familie Faraday
später, hatte er eine Festanstellung als Nachrichtenkameramann bei einem Kabelsender angenommen.
Nach drei Monaten wurde er in den Mittleren Osten geschickt, es war sein erster Job in einem Krisengebiet. Alle hatten gesagt, dass es gefährlicher klänge, als es war. Die Bilder in den Nachrichten mochten zwar dramatisch wirken, aber oft vergingen Tage ohne das geringste Vorkommnis. Der Produzent wäre immer unterwegs auf der Jagd nach Storys, aber der größte Teil seiner Arbeit würde darin bestehen, in seinem Hotelzimmer zu sitzen und abzuwarten.
So war es auch in den ersten beiden Wochen gelaufen, erzählte er Maggie. Dann, am zweiten Tag der dritten Woche, passierte eine große Story. Der Anführer einer der oppositionellen Parteien war ermordet worden, was zu Racheakten führte, zu Aufständen und Demonstrationen. Ein amerikanischer Soldat wurde getötet. Gabriel war mittendrin, arbeitete rund um die Uhr, jeden Tag.
»Das ging von null auf hundert, alles auf einmal, achtzehn Stunden am Tag, ohne Pause. Wir hatten kaum Zeit, das Material zu sichten und zu schneiden, da mussten wir schon wieder raus wegen einer anderen Story.«
»Hattest du Angst?«, fragte Maggie.
Er schüttelte den Kopf. »Es war ein plötzlicher Adrenalinschub nach all der Warterei. Es war aufregend. Eines Morgens hatten wir gehört, dass im Stadtzentrum eine wirklich große Sache passieren würde. Ein Angriff auf die amerikanische Botschaft, hieß es. Ausnahmsweise war die Information einmal richtig. Wir hörten die Explosion schon auf dem Weg, dann Sirenen und Schreie. Als wir ankamen, herrschte das totale Chaos: Verletzte, Leichen auf dem Boden, eine Wasserleitung war gebrochen, der Geruch von Gas …« Er schwieg und sah Maggie nicht an, sondern spielte mit dem Zuckertütchen herum.
»Wir haben uns gleich an die Arbeit gemacht. Ich hab ein paar allgemeine Szenen gefilmt, während der Reporter und unser Dolmetscher mit Augenzeugen gesprochen haben. Ich bin dann vom Gebäude weggegangen, um es von einem anderen Winkel aus zu filmen, da gab es eine zweite Explosion. Direkt vor der Botschaft. Genau da, wo ich gestanden hatte und wo unser Reporter und unser Dolmetscher zurückgeblieben waren.«
Maggie sagte nichts. Gabriel hatte das Zuckertütchen winzig klein zusammengefaltet.
»Sie waren auf der Stelle tot. Sie hatten keine Chance. Die Leute, mit denen sie gesprochen hatten, waren auch tot. Ein sechster Mann starb später an seinen Verletzungen. Ich wurde auch von etwas getroffen, keine Ahnung, von was. Von etwas Scharfem. Aber was war das schon. An dem Tag sind mindestens zehn Menschen gestorben, wenn nicht mehr, ich habe es nie genau herausfinden können.« Er rieb sich eine Narbe am linken Arm.
»Gabriel, es tut mir so leid.«
»Es war das Chaos, Maggie, das totale Chaos. Der Produzent und ich wurden ausgeflogen. Ich war eine Woche in medizinischer Behandlung, wurde psychologisch betreut. Dann war ich plötzlich wieder in Washington, zurück im normalen Leben. Aber es war nicht normal. Ich war ein anderer Mensch.« Er sah sie an, als käme er gerade wieder zu sich. »Maggie, entschuldige. Warum erzähle ich dir das?«
»Es ist in Ordnung, bitte rede weiter.«
»Ich bin dann noch ein paar Monate in Washington geblieben, aber es wurde immer seltsamer. Schwieriger. Ich hatte Angst. Ich hatte keinen inneren Abstand mehr. Ich war selbst bei normalen Nachrichten oder Interviews mit Politikern nervös. Wenn ich irgendwo eine Fehlzündung gehört habe, war ich vollkommen aufgelöst. Es gab eine große Trauerfeier für unseren Reporter, aber ich bin währenddessen gegangen. Ich musste immer an den Dolmetscher denken. Ich hatte ihn kaum gekannt, aber er war in meinem Alter gewesen, wir hatten denselben Musikgeschmack und ich hatte ihm versprochen, ihm CDs zu schicken. Aber er war tot, und wenn ich nicht in dem Moment weggegangen wäre, wäre ich auch ums Leben gekommen. Ich hätte mich als Glückspilz fühlen müssen, aber ich habe mich schuldig gefühlt. Ich habe wie besessen Nachrichten von ähnlichen Vorkommnissen verfolgt. Todesfälle und Beinahe-Todesfälle. Eines Morgens bin ich wach geworden und wusste, ich kann nicht mehr. Ich war eine Belastung, im Studio und draußen auf der Straße. Und außerdem war das passiert.« Er wies auf sein Haar. »Ich bin in weniger als vier Monaten grau geworden. Der Arzt hat gemeint, das könnte Zufall sein. Mom hat gesagt, dass ihr Großvater auch schon als junger Mann graue Haare bekommen hätte.
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