Die Toechter der Familie Faraday
zu maulen.
Dann gab es wieder eine Lücke, diesmal von vier Monaten. Maggie las die Zeilen noch sorgfältiger. Nun waren sie in Hobart – in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, in der Stadt, die ihre Heimat war, in der Umgebung, die sie so liebte. Sie merkte schnell, dass Tessa nicht begeistert war.
Tessa verlor kaum ein Wort über Hobart, über Leo und seinen Beruf, nur dass sie froh war, dass er nun mehr verdiente. Das neue Haus war zugig. Hobart war schön, so sauber im Vergleich zu London, aber wie ausgestorben. Sie regte sich auch immer mehr über Leo auf.
Er ist mal wieder von seinem dämlichen Erfindungsfieber gepackt. Macht ständig Witze darüber, dass ihm das im Blut liegt. Hockt die halbe Nacht in seinem Schuppen. Na, das soll mir nur recht sein.
Keine verwandte Seele unter den anderen Müttern, die Frauen leben hier alle ein wenig hinter dem Mond. Die Mädchen haben sich gut eingelebt, mit Ausnahme von Sadie. Ständig Tränen, sie will nicht zur Schule, hat Angst vor den Lehrern. Es gibt wohl auf der ganzen Welt kein nervenderes Kind. So weinerlich. Immer so ängstlich. Wenn ich sehe, wie sie sich in der Nähe der anderen Kinder herumdrückt, möchte ich sie am liebsten vorwärtsschubsen.
Es gab viele lustige Geschichten über die anderen, aber keine über Sadie. Maggie blätterte zurück und las die Seiten noch einmal, damit sie auch wirklich nichts übersah.
Sadie hat schon wieder Albträume. Hab jetzt ein paarmal Leo zu ihr geschickt, bei ihm beruhigt sie sich leichter als bei mir. Wenigstens darin sind wir uns einig. In jedem Nest hockt ein schwächstes Junges, so formuliert er es, und Sadie ist unser Schwächling. Ich darf einfach nicht so viel von ihr erwarten, meint er. Ich wünschte nur, ich würde mich nicht so unglaublich über sie aufregen. Es ist mir fast schon körperlich zuwider. Sie ist so bedürftig, ständig muss sie umarmt und gestreichelt werden. Es ist, als wäre sie unser Kuckuckskind.
Maggie musste sich zweimal eine Träne wegwischen. Gabriel sah es.
»Alles in Ordnung? Sollen wir anhalten?«
»Nein, danke.« Sie wusste nicht, wem ihre Tränen galten. Sadie? Leo? Ihrer ganzen Familie?
Als sie den Stadtrand von Dublin erreichten, beendete sie das letzte Tagebuch. Sie klappte es zu und sagte nichts. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Das war’s?«, fragte Gabriel.
Sie nickte.
»Ist es besser geworden?«
Sie schüttelte den Kopf.
Jetzt wusste sie alles, was es zu wissen gab, hatte jede einzelne Seite gelesen bis kurz vor Tessas Tod, wusste, was Tessa von ihrem Leben gehalten hatte, ihrem Mann und ihren Töchtern. Und sie wusste, was Sadie gelesen hatte.
Maggie war wütend. Sie war verwirrt, vor allem aber traurig. Traurig um Sadies willen bei der Vorstellung, wie Sadie sich wohl beim Lesen gefühlt hatte. Um Leos willen, der geahnt haben musste, wie Tessa wirklich empfand, der so viele Jahre voller Eifersucht auf seinen Bruder gelebt und unaufhörlich, hoffnungsvoll, beständig versucht hatte, Tessa dazu zu bringen, ihn zu lieben.
Maggie war auf eine seltsame Weise sogar um Tessas willen traurig. Tessa, die so eingebildet war, die so grausame und rücksichtslose Worte geschrieben hatte, ohne zu wissen, dass sie vierzehn Tage darauf sterben würde. Eine kurze Erwähnung der bevorstehenden Operation – eine Gebärmutterentfernung, wie Maggie erfuhr. Sie war bei Tessas Worten zusammengezuckt: Ich kann mir Leo ja doch nicht vom Leib halten, aber wenigstens kann ich danach NIE WIEDER schwanger werden. Tessas letzter Eintrag bezog sich darauf, wie schlecht das Krankenhausessen war, wie gelangweilt sie war und wie froh, dass eine ihrer Bettnachbarinnen entlassen wurde. In vier Zeilen hatte sie sich über ihre Idee mit den Juli-Weihnachtsfesten geäußert: Das wird Leo hoffentlich dazu bewegen, wieder nach England zurückzugehen. Ich habe es hier ja so satt. Wenn er nicht mitspielt, sollte ich bei meinem nächsten England-Besuch vielleicht einfach dableiben. Dann wird er schon umgehend nachkommen!
All die Jahre hatten sie die Juli-Weihnachtsfeste gefeiert, als Hommage an Tessa und ihren wundervollen Einfallsreichtum. Doch sie hatte sich das nur aus einem einzigen Grund ausgedacht, um Leo wieder nach England zu locken. Es war durch und durch egoistisch.
Maggie schwirrte der Kopf. Es war schwierig, das Gelesene einzuschätzen. Noch schwieriger fand sie die Vorstellung, mit Sadie darüber zu sprechen. »Gabriel, können wir irgendwo kurz anhalten? Ich brauche ein
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