Die Toechter der Familie Faraday
siehst so unglaublich schuldbewusst aus.«
»Nichts. Und das geht dich sowieso nichts an.«
»Du hast wieder rumgeschnüffelt, Sadie. Diesen Gesichtsausdruck hast du immer, wenn du irgendetwas angestellt hast.«
Sadie hätte es ihr fast gesagt. Es lag ihr auf der Zunge. Aber was dann? Eliza würde es Juliet erzählen, Juliet wiederum Miranda, die es Clementine erzählen würde, und dann würden sie geschlossen zu Leo gehen, der Nein sagen würde. Nein, sie dürften die Tagebücher nicht lesen. Vielleicht würde er sie daraufhin wirklich verbrennen. Sadie würde Ärger bekommen – großen Ärger -, weil sie unerlaubterweise in Leos Schuppen gegangen war. Sie konnte es Eliza nicht erzählen. Sie wollte es ihr auch nicht erzählen. Sie wollte die Erste sein, die in den Tagebüchern ihrer Mutter las.
»Sag schon«, drängte Eliza und zwickte sie.
Sadie sah betont auf Elizas Sporttasche. Wieder hoch zu Eliza. Wieder auf die Sporttasche. »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Fast hätte sie hinzugefügt: »Riechst du denn nichts?«, aber das war zu offensichtlich. Eliza verstand den Wink auch so. Sadie glitt vom Bett, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Als sich Eliza wenige Minuten später zu ihr gesellte, war sie verändert. Sadie kannte den verschwörerischen, amüsierten Ausdruck, den sie alle hin und wieder hatten, wenn das »Moonstruck« weitergewandert war.
»Willst du Tee, Sadie?«
»O gerne, danke«, sagte sie.
Während der nächsten Tage ging Sadie bei jeder Gelegenheit in den Schuppen. Was sich selten genug ergab. Während der Woche musste sie auf Maggie aufpassen und konnte es nicht riskieren, sie mitzunehmen. Ihre Nichte sprach schon zu viel – und registrierte auch schon zu viel. Sie würde ganz sicher während des Abendessens darüber plappern, dass sie mit Sadie zusammen in Tollpatschs Schuppen gewesen war und in alte Bücher geschaut hatte. Und an den Wochenenden war Leo meist dort.
Sadie wagte nicht, die Tagebücher aus dem Schuppen zu holen. Sie wagte kaum, das erste zu lesen. Aber als sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Es war so tröstlich, die Seiten zu berühren, die ihre Mutter berührt hatte. Noch viel aufregender war es, zu lesen, was ihre Mutter gedacht hatte. Das Schicksal musste Sadie an jenem Tag in den Schuppen geführt haben. Sie hatte mit dem ersten Tagebuch begonnen. Es war seltsam, denn sie selbst war älter als ihre Mutter zum Zeitpunkt der ersten Einträge. Tessa schrieb über ihre Arbeit als Sekretärin, ihre abendlichen Unternehmungen in London, Treffen mit Freundinnen, Einkaufstouren. Sie hatte kleine Zitate notiert, die ihr gefallen hatten. Auf einer Seite klebte eine Theaterkarte. Manches las sich ein wenig unangenehm. Tessa war wohl die Hübscheste, und es gab zahlreiche Bemerkungen über ihr Äußeres und ihre Kleider, neben gelegentlichen abfälligen Kommentaren über das Aussehen ihrer Freundinnen. Sadie genoss trotz ihres schlechten Gewissens jedes einzelne Wort. Ihre Mutter konnte sich sehr gut ausdrücken, bei den Beschreibungen ihrer Kleider ebenso wie bei den kleinen Sticheleien über Bekannte.
Sadie gestattete sich bei jedem Besuch zehn Seiten. Es war, als würde sie einen Roman lesen, dessen Handlung sie bereits kannte – als Letztes hatte Sadie gelesen, dass Tessa sich zurechtgemacht hatte, um mit Freundinnen tanzen zu gehen, und dass sie in einen Jungen aus ihrer Heimatstadt verknallt war. Sadie hatte ausgerechnet, dass ihre Mutter damals zwanzig Jahre alt gewesen sein musste. Dann waren es nur noch acht Monate bis zu ihrer Begegnung mit Leo. Selbst wenn Sadie vor Neugierde umkam, sie hielt sich streng an ihr Pensum.
13
Der Abend nach Maggies fünftem Geburtstag ging in die Annalen der Faraday’schen Familiengeschichte als die Nacht der Nachrichten ein. Im Rückblick, hatte Leo gesagt, wäre ihm, als hätte ein Riese das Haus gepackt und so lange geschüttelt, bis die halbe Familie zum Fenster hinausgeflogen und sich in alle Winde zerstreut hätte.
Miranda hatte erwidert, das wäre wirklich sehr an den Haaren herbeigezogen.
Dabei war die Familie schon vorher in Aufruhr gewesen, Maggie wegen ihrer Geburtstagsparty außer Rand und Band. Sie hatte das Motto selbst gewählt (Kaninchen), das Essen (Fischstäbchen und Eis), die Musik (Weihnachtslieder, warum auch immer) und fünf Freundinnen eingeladen.
Am Vorabend hatte die übliche Geschäftigkeit geherrscht. Maggie hatte immer wieder gefragt, ob auch
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