Die Toechter der Kaelte
bist du gewesen?«
Er schaute kläglich zu ihr hoch, als sie sein Schlafzimmer betrat. Was für ein schwaches Männlein er jetzt doch war. In ihr stieg Zärtlichkeit auf, als sie verstand, wie abhängig er von ihrer Fürsorge war. Es tat gut, so gebraucht zu werden. Es war wie damals, als Charlotte klein war. Wie mächtig man sich dochgefühlt hatte, weil man die Verantwortung für ein so hilfloses Leben trug. Eigentlich hatte sie diese Zeit am meisten geliebt. Als Charlotte dann älter wurde, war sie ihr immer mehr aus den Händen geglitten. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie die Zeit angehalten und Charlotte gehindert, erwachsen zu werden. Aber je fester sie versucht hatte, die Tochter an sich zu binden, desto mehr hatte sich Charlotte ihr entzogen. Statt dessen hatte ihr Vater völlig unverdient all die Liebe und den Respekt bekommen, der Lilian nach ihrer Meinung gebührte. Sie war schließlich Charlottes Mutter. Ein Vater sollte doch niedriger im Kurs stehen als eine Mutter. Sie war es doch trotz allem, die das Kind geboren und dessen Bedürfnisse in den ersten Jahren gestillt hatte. Später dann hatte Lennart sich eingeschaltet und die Früchte all der Arbeit geerntet, die von ihr geleistet worden war. Er hatte Charlotte zu Papas Mädel gemacht. Als die Tochter dann ausgezogen war und sie beide allein zurückblieben, begann der Mann davon zu sprechen, sie zu verlassen, als hätte in all den Jahren nur Charlotte gezählt. Die Erinnerung machte sie zornig, und sie mußte sich zwingen, Stig anzulächeln. Er zumindest brauchte sie. Und in gewissem Maße auch Niclas, selbst wenn der es nicht begriff. Charlotte hatte keine Ahnung, wie gut sie es hatte. Statt dessen meckerte sie an ihm herum, weil er nicht half, weil er nicht seinen Teil bei der Kindererziehung übernahm. Undankbar, das war sie. Aber auch von Niclas war Lilian allmählich tief enttäuscht. Heimzukommen und sie anzufauchen und von Wegziehen zu reden! Aber sie wußte sehr wohl, woher diese Grillen stammten. Sie hatte nur nicht geglaubt, daß er sich so leicht beeinflussen ließe.
»Wie finster du aussiehst«, sagte Stig und streckte die Hand nach ihr aus. Sie übersah sie geflissentlich und strich statt dessen seine Decke sorgfältig glatt.
Stig stellte sich immer auf Charlottes Seite, also konnte sie ihm nichts von dem erzählen, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. Vielmehr sagte sie: »Beim Nachbarn drüben ist ein Riesenrummel. Es wimmelt von Polizisten und Streifenwagen. Ja, wirklich nicht lustig, kann ich dir sagen. Daß solche Leute so dicht nebenan wohnen müssen.«
Stig setzte sich heftig auf. Vor Schmerz verzog er das Gesicht und griff sich an den Magen. Aber seine Miene drückte Hoffnung aus: »Das muß sich doch um Sara handeln. Glaubst du, sie haben etwas über Sara erfahren?«
Lilian nickte heftig. »Ja, das würde mich nicht wundern. Weshalb sollten sie sonst mit einem solchen Aufgebot anrücken?«
»Das wäre ein Segen für Charlotte und Niclas, wenn die Sache endlich ein Ende hätte.«
»Ja, und wie mich das gequält hat, weißt du ja auch, Stig. Vielleicht findet meine Seele jetzt wieder Ruhe.«
Nun gestattete sie Stig, ihr die Hand zu streicheln, und seine Stimme war genauso liebevoll wie immer, als er sagte: »Selbstverständlich, Liebling. Du, die doch ein so gutes Herz hat, für dich muß es eine entsetzliche Zeit gewesen sein.« Er drehte ihre Hand um und küßte die Handfläche.
Sie ließ ihn eine Sekunde gewähren, bevor sie ihm ihre Hand entriß. Schroff sagte sie: »Ja, wirklich schön zu hören, daß ausnahmsweise mal jemand wegen mir bekümmert ist. Wollen jetzt nur hoffen, daß wir recht haben und man Kaj wegen Sara abgeholt hat.«
»Weswegen denn sonst?« Stig klang verblüfft.
»Jaa, keine Ahnung. Hab eigentlich an nichts gedacht. Aber wenn überhaupt jemand, dann weiß schließlich ich, wozu dieser Mann fähig ist …«
»Wann ist die Beerdigung?« unterbrach sie Stig.
Lilian stand vom Bett auf. »Wir warten noch immer, wann wir die Leiche zurückbekommen können. Vermutlich irgendwann nächste Woche.«
»Bitte, sag nicht >die Leiche<. Wir reden doch von unserer Sara.«
»Sie ist schließlich meine Enkelin, nicht deine«, zischte Lilian.
»Ich habe sie auch geliebt, das weißt du«, erwiderte Stig sanft.
»Ja, ich weiß, Lieber, verzeih. All das ist nur so belastend für mich, und keiner scheint es zu verstehen.« Sie wischte eine Träne weg und bemerkte, wie reumütig Stig aussah.
»Nein, du
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