Die Toechter der Kaelte
zu werden, dann war das Erica. Merkwürdigerweise hatte Anna sie immer als äußerst stark gesehen, und dieses Gefühl hatte ihre eigene Bitterkeit noch verstärkt. Jetzt, wo sie selbst schwächer war als je zuvor, sah sie die Schwester so, wie sie eigentlich war. Voller Angst, daß alle bemerken könnten, was die Mutter gesehen hatte und weshalb sie die Kinder ihrer Liebe offenbar nicht für wert hielt. Wenn Anna nur noch einmal die Chance dazu bekäme, würde sie ihre Arme um Erica schlingen und ihr für all die Jahre bedingungsloser Liebe danken. Ihr für die Unruhe danken, für die Schelte, für den besorgten Blick in ihren Augen, wenn sie meinte, daß Anna auf dem Holzweg war. Ihr für all das danken, wovon Anna geglaubt hatte, es würde sie einengen und binden. Was für eine Ironie. Sie hatte nicht einmal gewußt, was es wirklich hieß, eingeengt und gebunden zu sein. Bis jetzt.
Das Geräusch des Schlüssels im Schloß ließ sie heftig zusammenfahren. Auch die Kinder, die apathisch am Boden spielten, erstarrten in ihren Bewegungen.
Anna stand auf und ging ihm entgegen.
Arnold schaute ihn durch seine dunkle Sonnenbrille besorgt an. Schwarzenegger, The Terminator. Wenn er doch nur so sein könnte. Cool. Tough. Eine Maschine ohne Gefühl.
Sebastian, der auf dem Bett lag, starrte zu dem Poster hoch. Er konnte noch immer Runes Stimme hören, seinen falschen, bekümmerten Ton. Seine klebrige angebliche Fürsorge. Wo er sich doch nur darüber Sorgen machte, was die Leute über ihn selbst sprachen. Was hatte er gesagt?
»Ich habe von ein paar schrecklichen Beschuldigungen gegen Kaj gehört. Allerdings kann ich nicht recht glauben, daß es etwas anderes als üble Nachrede ist, aber ich muß trotzdem die Frage stellen: Hat er sich bei irgendeiner Gelegenheit dir oder den anderen Jungs gegenüber ungebührlich verhalten? Euch in der Dusche angeguckt oder so?«
Sebastian hatte im stillen über Runes Naivität gelacht. »Euch in der Dusche angeguckt …« Das wäre ja wohl nicht weiter schlimm gewesen. Das andere war es, mit dem er nicht leben konnte. Nicht jetzt, wo alles ans Licht kommen würde. Er wußte schließlich, wie solche Leute funktionierten. Sie machten ihre Bilder, hoben sie auf und tauschten sie, und wie gut sie die auch versteckten, man würde sie jetzt doch entdecken.
Nur einen Vormittag würde es brauchen, dann wäre es in der ganzen Schule herum. Die Mädels würden ihn anstarren, auf ihn zeigen und kichern, und die Jungen würden Schwulenwitze reißen und dämliche Handbewegungen machen, wenn er vorbeiging. Keiner würde Mitleid mit ihm haben. Niemand würde sehen, wie groß das Loch in seiner Brust war.
Er drehte den Kopf ein wenig nach links und schaute auf das Poster mit Clint als Dirty Harry. Eine solche Pistole sollte man haben. Oder noch besser: eine Maschinenpistole. Dann könnte er es machen wie diese Jungs in den USA. Im langen, schwarzen Mantel in die Schule rennen und alle, die er erwischte, niedermähen. Besonders die Coolen. Die sich am schlimmsten benehmen würden. Aber er wußte, das war nur eine wahnwitzige Idee. Er war nicht fähig, anderen etwas anzutun. Es war ja eigentlich nicht deren Schuld. Die lag ganz klar bei ihm, und nur sich wollte er treffen. Er hätte die Sache ja stoppen können. Hatte er eigentlich irgendwann nein gesagt? Nicht ausdrücklich. Irgendwie hatte er wohl gehofft, Kaj würde sehen, wie es ihn quälte, wie sehr er ihn verletzte, und von allein aufhören.
Alles war so kompliziert gewesen. Denn zum Teil mochte er Kaj ja auch. Er war okay gewesen, und anfangs hatte er Sebastian dieses Papa-Gefühl vermittelt, das er von Rune nie bekommen hatte. Er hatte mit Kaj reden können. Uber die Schule, die Mädels, über Mutter und Rune, und Kaj hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt und zugehört. Erst nach einer Weile war es aus dem Ruder gelaufen.
Es war still im Haus. Rune war zur Arbeit gegangen, zufrieden damit, daß Sebastian ihm bestätigt hatte, was er ohnehin zu wissen glaubte, daß alle Beschuldigungen gegen Kaj aus der Luft gegriffen waren. Bestimmt würde er im Pausenraum sitzen und sich lauthals darüber beklagen, daß die Polizei mit solch unbegründeten Vorwürfen ankam.
Sebastian erhob sich vom Bett und ging aus seinem Zimmer. Er blieb in der Türöffnung stehen und sah zurück. Er betrachtete sie einen nach dem anderen und nickte kurz, als würde er sie grüßen. Clint, Sylvester, Arnold, Jean-Claude und Dolph. Die all das waren, was er nicht
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