Die Toechter der Kaelte
Gottesgeschenk. Sicher hatten sie in den reichlich sechs Jahren ihrer Ehe so manchen Strauß ausgefochten, und hin und wieder zeigte sie sich als außerordentlich harte Frau, aber es war, als würden ihre besten und sanftesten Seiten bei der Fürsorge für ihn sichtbar. Seit er krank war, hatten sie beide in einer äußerst symbiotischen Beziehung gelebt. Sie liebte es, ihn zu betreuen, und er liebte es, von ihr betreut zu werden. Jetzt fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, daß sie beinahe getrennte Wege gegangen wären. Alles Schlechte hat auch etwas Gutes an sich, sagte er sich immer. Doch das war, bevor ihnen das denkbar Schlimmste zustieß. Darin konnte er nichts Gutes erkennen.
Das Mädel hatte gefühlt, wie es um ihn stand. Ihre weiche Hand hatte an seiner Wange Wärme hinterlassen, die er noch immer spürte. Sie hatte sich auf seine Bettkante gesetzt und von allem erzählt, was am Tag passiert war, und er hatte genickt und mit ernstem Gesicht zugehört. Er behandelte sie nicht wie ein Kind, sondern wie jemanden, der gleichberechtigt war. Das hatte ihr gefallen.
Daß sie nicht mehr da war, war unfaßbar.
Er Schloß die Augen und ließ sich von einer neuen, starken Welle des Schmerzes davontragen.
Strömstad 1923
Es wurde ein seltsamer Herbst. Nie zuvor war er so ermattet gewesen, aber auch nie so voller Energie. Es war, als würde sie ihm Lebensmut einflößen, und zuweilen fragte sich Anders, wie er, ehe sie in sein Leben trat, den Körper überhaupt zum Funktionieren gebracht hatte.
Nach jenem ersten Abend, wo sie den Mut gefaßt hatte, an sein Fenster zu kommen, hatte sich sein ganzes Dasein verändert. Die Sonne begann erst zu scheinen, wenn Agnes kam, und sie erlosch, wenn sie sich trennten. Im ersten Monat hatten sie sich einander nur vorsichtig genähert. Sie war so scheu, so zurückhaltend, daß es ihn noch immer wunderte, wie sie es hatte wagen können, den ersten Schritt zu machen. Es paßte so gar nicht zu ihr, so forsch zu sein, daß ihm ganz warm ums Herz wurde, wenn er daran dachte, daß sie seinetwegen derart weit von ihren Prinzipien abgewichen war.
Zunächst hatte er gezögert, das gestand er bereitwillig ein. Er hatte Probleme in der Zukunft, hatte die Unmöglichkeit gesehen, aber sein Gefühl war so stark gewesen, daß es ihm auf irgendeine Weise gelungen war, sich selbst zu überzeugen, daß am Ende sicher alles in Ordnung käme. Und sie war so voller Zuversicht. Wenn sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihre zarte Hand in der seinen ruhen ließ, dann war ihm, als könnte er Berge versetzen.
Es waren nicht viele Stunden, die sie zusammen verbrachten. Er kam erst spätabends aus dem Steinbruch heim und war gezwungen, frühzeitig am nächsten Morgen zur Arbeit aufzubrechen. Doch sie fand immer Rat, und dafür liebte er sie. Lange Spaziergänge um den Ort unternahmen sie im Schutz der Dunkelheit, und trotz der rauben Herbstkälte fanden sie immer ein trockenes Plätzchen, wo sie sitzen und sich küssen konnten. Als sich die Hände schließlich unter die Kleider vorwagten, befanden sie sich schon tief im November, und er wußte, daß sie an einem Scheideweg angekommen waren.
Vorsichtig hatte er die Zukunft zur Sprache gebracht. Er wollte nicht, daß sie ins Unglück geriet, dafür liebte er sie zu innig, doch zugleich war es, als würde sein Körper ihm zuschreien, er solle jenen Weg wählen, der sie beide zu einer Vereinigung führte. Der Versuch, über seine Seelenqual zu sprechen, wurde durch einen Kuß von ihr verhindert.
»Wir reden nicht darüber«, sagte sie und küßte ihn erneut. »Morgen abend, wenn ich bei dir anklopfe, kommst du nicht zu mir raus, sondern läßt mich zu dir rein.«
»Aber wenn nun die Witwe …«, sagte er, bevor sie ihn wieder durch einen Kuß verstummen ließ.
»Schhhh«, sagte sie. »Wir machen nicht mehr Lärm als zwei Mäuschen.« Sie streichelte seine Wange und fuhr fort: »Zwei leise Mäuschen, die sich lieben.«
»Aber denk mal…«, fuhr er unruhig, doch zugleich aufgeregt fort.
»Denk nicht so viel«, sagte sie lächelnd. »Wir leben heute. Wer weiß, ob wir morgen nicht schon tot sind.«
»Ah, sag nicht so was«, erwiderte er und preßte sie an sich. Sie hatte recht. Er dachte zu viel.
»Es ist wohl das beste, wir bringen das hier sofort hinter uns.« Patrik seufzte.
»Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll«, brummte Ernst. »Lilian und Kaj liegen sich seit Jahren in den Haaren, aber ich kann mir nicht vorstellen,
Weitere Kostenlose Bücher