Die Toechter der Kaelte
verwandelten sich ihre Befürchtungen in Gewißheit.
»Du, du …«, stammelte ihr Vater und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Du Schlampe! Wer … was?« fuhr er stammelnd fort, und sie bemerkte aus ihrer Froschperspektive, daß er mehrmals schluckte, um den Worten auf den Weg zu helfen. Nie zuvor hatte sie ihren dicken, gutmütigen Vater in einer solchen Verfassung gesehen, und dieser Anblick erschreckte sie.
Agnes spürte auch, daß sie mitten in der Angst Verwirrungpackte. Wie konnte es dazu gekommen sein? Sie hatten die Sicherheitsmaßnahme, die zu Gebote stand, ergriffen, und immer rechtzeitig unterbrochen, nicht in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich vorstellen können, daß sie dennoch ins Unglück geraten konnte. Zwar hatte sie von anderen Mädchen gehört, die ungewollt schwanger wurden, aber sie hatte immer voller Verachtung gedacht, daß sie unvorsichtig gewesen waren und den Mann hatten weitergehen lassen, als er durfte.
Und jetzt lag sie hier. Ihre Gedanken schwirrten fiebrig umher auf der Suche nach einer Lösung. Für sie hatten sich die Dinge immer geregelt. Das mußte auch diesmal gelingen. Sie mußte es schaffen, daß ihr Vater Verständnis zeigte, wie immer, wenn sie etwas verzapft hatte. Zwar war es dabei nie um eine Sache diesen Ausmaßes gegangen, aber ihr Leben lang war er ihr stets zu Hilfe gekommen und hatte ihr den Weg geebnet. So mußte es auch jetzt werden. Sie spürte, wie sie ruhiger wurde, nachdem der erste Schock vorüber war. Natürlich ließ sich die Sache in Ordnung bringen. Vater würde eine Zeitlang böse sein, das mußte sie ertragen, aber er würde ihr hier heraushelfen. Es gab Orte, wo man so etwas lösen konnte, das war nur eine Geldfrage, und was das anging, war sie schließlich gut ausgestattet.
Zufrieden darüber, daß sie einen Plan erdacht hatte, öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen und damit die Bearbeitung ihres Vaters zu beginnen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken, als Augusts Hand von neuem klatschend auf ihrer Wange landete. Sie schaute ihn ungläubig an. Nie hätte sie sich vorstellen können, daß er je die Hand gegen sie erhöbe, und nun hatte er sie in kürzester Zeit gleich zweimal geschlagen. Die Ungerechtigkeit dieser Behandlung ließ Zorn in ihr aufflammen, sie setzte sich rasch auf und öffnete erneut den Mund, um eine Erklärung zu versuchen. Klatsch! Die dritte Ohrfeige traf zischend ihr bereits schmerzendes Gesicht, und Agnes fühlte, wie ihr Tränen der Wut in die Augen stiegen. Was dachte er sich dabei, sie so zu behandeln! Resigniert sank sie auf die Kissen zurück und starrte voller Verwirrung und Zorn den Vater an, den sie geglaubt hatte so gut zu kennen. Aber der Mann vor ihr war ein Fremder.
Langsam kam sie zu der Einsicht, daß ihr Leben vielleicht eine schreckliche Wendung nahm.
Ein vorsichtiges Klopfen an der Tür ließ ihn aufschauen. Er war voll damit beschäftigt, angesammelte Papiere durchzugehen, und erwartete keinen Patienten.
»Ja?« Seine Stimme klang abweisend, und die Person draußen schien zu zögern. Aber dann wurde die Klinke heruntergedrückt, und die Tür ging langsam auf.
»Störe ich?«
Ihre Stimme war genauso dünn, wie er sie in Erinnerung hatte. »Mutter?« Niclas fuhr vom Stuhl hoch und blickte verwundert zu der offenen Tür, in der die kleine, schmale Frau zögernd stehengeblieben war. Sie hatte in ihm immer den Beschützerinstinkt geweckt, und nun wollte er am liebsten zu ihr hinlaufen und die Arme um sie legen. Aber er wußte, daß sie im Laufe der Jahre aller starken Gefühlsäußerungen entwöhnt worden war und die sie nur verlegen machen würden, also hielt er sich zurück und überließ es ihr, die Initiative zu ergreifen.
»Darf ich reinkommen? Aber du bist vielleicht beschäftigt?« Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Aktenberge vor ihm und machte eine Bewegung, als wollte sie wieder gehen.
»Nein, absolut nicht, komm rein, komm rein.« Er fühlte sich wie ein Schuljunge, sauste um den Schreibtisch, um ihr den Stuhl bereitzustellen. Vorsichtig setzte sie sich ganz vorn auf die Kante und blickte sich nervös um. Sie hatte ihn noch nie als Arzt gesehen, und er begriff, daß er in dieser Umgebung fremd auf sie wirken mußte. Aus dem Siebzehnjährigen war in einem einzigen Augenblick ein erwachsener Mann geworden. Der Gedanke daran ließ Wut in ihm aufflammen. Wie viel sie versäumt hatten, er und die Mutter, alles wegen diesem boshaften, verdammten Alten. Er
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