Die Toechter der Kaelte
Polizisten kommen und wieder gehen. Aber er vergeudete keine Zeit mit Überlegungen, welches Anliegen sie ins Haus der Eltern geführt haben könnte. Das Grübeln lag ihm nicht.
Er reckte sich. Es ging auf den späten Nachmittag zu, und er hatte wie üblich fast den ganzen Tag am Computer gesessen. Seine Mutter hatte Bedenken, wie sich das wohl auf seinen Rücken auswirkte, aber er sah keinen Grund zur Besorgnis, bevor nichts passiert war. Zwar ging er inzwischen ziemlich krumm, aber er fühlte keinen Schmerz, und solange es nur das Aussehen betraf, war das keine Sache, die sein Gehirn registrierte. Für einen, der ohnehin nicht normal war, spielte es keine Rolle, wenn er auch ein wenig krumm lief.
Es war schön, in Ruhe hier sitzen zu können. Jetzt, wo das Mädchen nicht mehr da war, war der Unruhefaktor verschwunden. Er hatte sie nicht gemocht. Wirklich nicht. Sie war hier immer aufgetaucht und hatte ihn gestört, wenn er mitten in der Arbeit steckte, hatte so getan, als hörte sie nichts, wenn er ihr sagte, sie solle gehen. Die anderen Kinder hatten Angst vor ihm und begnügten sich damit, hinter seinem Rücken mit dem Finger auf ihn zu zeigen, die wenigen Male, die er sich außerhalb seines Häuschens zeigte. Doch bei ihr war es anders. Sie drängte sich auf, forderte Aufmerksamkeit und ließ sich selbst durch Anschnauzen nicht wegjagen. Manchmal war er so frustriert gewesen, daß er sich mitten ins Zimmer gestellt, sich die Ohren zugehalten und geschrien hatte, in der Hoffnung, das würde sie verscheuchen. Aber sie hatte nur gelacht. Also war es wirklich schön, daß sie nicht wiederkommen würde. Niemals mehr.
Der Tod faszinierte ihn. Es lag irgendwie an der Endgültigkeit des Todes, daß sich seine Gedanken ständig mit all seinen Formen beschäftigten. Die Spiele, an denen er am liebsten arbeitete, waren jene, die viel Tod enthielten. Blut und Tod.
Manchmal hatte er überlegt, sich das Leben zu nehmen. Nicht so sehr, weil er nicht mehr leben wollte, sondern weil er sehen wollte, wie es war, tot zu sein. Früher hatte er davon gesprochen. Es seinen Eltern rundheraus gesagt, daß er überlegte, sich das Leben zu nehmen. Nur als Information. Aber ihre Reaktionen hatten dazu geführt, daß er diese Gedanken jetzt für sich behielt. Es hatte einen gewaltigen Wirbel verursacht, und die Besuche beim Psychologen waren zahlreicher geworden, während die Eltern, oder vielleicht vor allem Mama, zugleich anfingen, ihn rund um die Uhr zu bewachen. Das hatte Morgan nicht gefallen.
Er verstand nicht, weshalb alle solche Angst vor dem Tod hatten. Diese unbegreiflichen Gefühle, die andere Menschen hatten, schienen sich zu konzentrieren und zu vervielfachen, sobald man vom Tod reden hörte. Er verstand es wirklich nicht. Der Tod war doch ein Zustand, genau wie das Leben, und warum sollte der eine besser als der andere sein?
Am liebsten hätte er dabeisein wollen, als man das Mädchen aufschnitt. Hätte danebenstehen und zuschauen wollen. Sehen wollen, was es war, das andere so erschreckend fanden. Vielleicht lag die Antwort sichtbar da, wenn man sie öffnete. Vielleicht lag die Antwort im Gesicht jener Menschen, die sie öffneten.
Manchmal hatte er geträumt, selbst in einer Leichenhalle zu liegen. Auf einem kalten Metalltisch, ohne einen Faden am Leib. Im Traum sah er Stahl aufblitzen, genau, bevor der Obduzent den geraden Schnitt an seinem Brustkorb vornahm.
Aber auch das war nichts, was er erzählte. Dann würde man vielleicht glauben, er sei verrückt, nicht nur nicht ganz normal, wie es das Etikett besagte, mit dem er seit Jahren zu leben gelernt hatte.
Morgan kehrte zum Bildschirm zurück. Er genoß die Ruhe und Stille. Es war wirklich schön, daß sie weg war.
Lilian öffnete, ohne daß sie anzuklopfen brauchten. Patrik hatte den Verdacht, daß Lilian, schon seit sie gegangen waren, nach ihnen Ausschau gehalten hatte. Im Flur stand ein Paar Schuhe, das zuvor nicht dagestanden hatte, und Patrik vermutete, die Freundin Eva war zur moralischen Unterstützung eingetroffen.
»Nun«, sagte Lilian. »Was hatte er zu seiner Verteidigung vorzubringen? Können wir jetzt diese Anzeige erledigen, damit ihr ihn bald holen könnt?«
Patrik atmete tief durch. »Wir möchten nur erst ein paar Worte mit Ihrem Mann sprechen, bevor wir die Anzeige weiterverfolgen. Es gibt immer noch ein paar ungeklärte Dinge.«
Eine Sekunde lang sah er Unsicherheit über ihr Gesicht huschen, aber rasch wurde sie durch Streitlust
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