Die Toechter der Kaelte
Oder zumindest besessen hatte. Jetzt lag dieses Leben in Trümmern, und nichts, was er sagte oder tat, konnte etwas daran ändern.
Niclas blätterte apathisch in den vor ihm liegenden Akten. Schon im Normalfall haßte er den Papierkram, und heute kam er damit kein bißchen voran. Bei der ersten Patientin nach der Mittagspause war er sogar unfreundlich und kurz angebunden gewesen. Sonst war er immer äußerst charmant, egal, wer zu ihm kam, aber gerade heute hatte er keine Geduld gehabt, ein weiteres Weibsbild zu verhätscheln, das ihn mit ihren eingebildeten Wehwehchen aufsuchte. Die betreffende Patientin war eine Art Stammkundin in der Praxis gewesen, aber jetzt bestanden wohl Zweifel, ob sie wiederkommen würde. Seine aufrichtige Meinung zu ihrem Gesundheitszustand war nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Nun ja, so etwas empfand er nicht länger als sonderlich wichtig.
Mit einem Seufzer sammelte er die Akten ein. Dann überwältigten ihn die Gefühle, die er so lange versucht hatte zu unterdrücken, und mit einer einzigen Armbewegung fegte er alles vom Tisch. Die Papiere wirbelten durch die Luft und landeten in einem Durcheinander auf dem Boden. Niclas konnte plötzlich den Arztkittel nicht schnell genug loswerden. Er ließ ihn fallen, riß die Jacke an sich und rannte aus dem Zimmer, als sei er vom Teufel gejagt. Was in gewisser Weise auch stimmte. Er stoppte nur vorübergehend den Schritt, um die Schwester mit erzwungener Ruhe zu beauftragen, alle Termine für den Nachmittag abzusagen. Dann stürzte er in den Regen hinaus. Ein salziger Regentropfen rann ihm in den Mund, und der Salzgeschmack ließ ein Bild der Tochter vor ihm auftauchen, wie sie im grauen Meer trieb, um den Kopf tanzende weiße Wellenkämme. Das ließ ihn noch schneller rennen. Mit Tränen im Gesicht, die in dem Regen unsichtbar wurden, floh er. Vor allem floh er vor sich selbst.
Die Kaffeemaschine ächzte und prustete, aber produzierte dasselbe schwarze Pech wie gewöhnlich. Patrik zog es vor, an der Spüle stehenzubleiben, während die anderen sich mit ihren warmen Kaffeetassen niederließen. Er stellte fest, daß alle anwesend waren, mit Ausnahme von Martin. Gerade wollte er fragen, ob ihn jemand gesehen habe, als er mit hängender Zunge angesaust kam.
»‘tschuldige die Verspätung. Annika hat angerufen und gesagt, hier ist Besprechung. Ich war unterwegs, um …«
Patrik hob abwehrend die Hand. »Später. Ich habe hier ein paar Dinge durchzugehen.«
Martin nickte, setzte sich an die Schmalseite des Tisches und sah Patrik neugierig an.
»Wir haben das Analysenresultat von Saras Magen- und Lungeninhalt erhalten. Und da gab es etwas Seltsames.«
Die Stimmung am Tisch war auffallend gespannt. Mellberg sah Patrik aufmerksam an, und sogar Ernst und Gösta wirkten ausnahmsweise einmal interessiert. Annika führte wie üblich Protokoll und würde es nach der Zusammenkunft jedem von ihnen schicken.
»Jemand hat das Mädchen gezwungen, Asche zu essen.«
Wenn eine Stecknadel zu Boden gefallen wäre, hätte das wie Donner geklungen, so still war es im Raum. Dann räusperte sich Mellberg. »Asche, hast du Asche gesagt?«
Patrik nickte. »Ja, die fand man im Magen und in der Lunge. Pedersen hat die Theorie, daß sie von jemandem gezwungen worden ist, diese zu schlucken, als sie schon in der Badewanne saß. Etwas davon ist im Wasser gelandet, und als sie ertränkt wurde, geriet sie somit auch in die Lunge.«
»Aber warum?« fragte Annika verblüfft und vergaß ausnahmsweise das Notieren.
»Das ist die Frage. Und es ist auch die Frage, ob uns das irgendwie voranbringt. Ich habe schon angerufen und eine Untersuchung von Familie Florins Bad veranlaßt. Wo wir die Asche auch finden mögen, auf jeden Fall ist das dann der gesuchte Tatort.«
»Aber glaubst du wirklich, daß jemand aus der Familie …« Gösta beendete seine Frage nicht.
»Ich glaube nichts«, sagte Patrik. »Wenn ein anderer möglicher Tatort auftaucht, werden wir auch den genau durchkämmen, falls die Durchsuchung am Nachmittag nichts ergibt. Das Haus der Florins ist noch immer der letzte Ort, an dem sie gesehen wurde, und dann können wir ebensogut dort anfangen. Oder was sagst du, Bertil?«
Die Frage war rein rhetorisch. Mellberg hatte sich bei der Ermittlung nicht im geringsten engagiert, aber alle wußten, ihm gefiel die Illusion, derjenige zu sein, der die Kontrolle ausübte.
Mellberg nickte. »Klingt wie eine gute Idee. Aber hätte die Spurensicherung sich deren
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