Die Töchter der Lagune
Decamerone von Boccaccio, den er bereits beim Eintreten auf dem Tisch neben dem Waschgestell entdeckt hatte. Dann ließ er den Perlenohrring fallen, welchen er aus Desdemonas Kammer entwendet hatte, als diese sich im Nebenraum befunden hatte. „Marcantonio ist wieder völlig gesund. Ich habe ihn heute ohne Gehstock laufen sehen. Es ist, als sei er nie verwundet gewesen.“ „Hmmm“, erwiderte Cassio geistesabwesend und starrte weiter aus dem winzigen Fensterchen, durch das man den Hügel, auf dem die Zitadelle thronte, sehen konnte. „Ich habe zufällig gehört, wie er sich mit Christoforo Moro unterhalten hat. Er sagte, er habe Euch schon längst vergeben.“ Als sei er giftig, stopfte er den Decamerone unter sein Wams, ehe er mit einem verschlagenen Lächeln hinter Cassio trat. Wie er diese Charade genoss! Cassio wirbelte herum. „Hat er?“ Der Schimmer der Hoffnung ließ sein junges Gesicht beinahe herzerweichend unschuldig aussehen. „Dann lasst uns zur Zitadelle gehen. Vielleicht treffen wir ihn, und ich kann ihn bitten, ein gutes Wort für mich einzulegen!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, griff er nach Hut und Umhang, stieß die Tür auf und eilte die knarrenden Stufen hinab. Bevor Jago ihm folgte, sah er sich hastig noch einmal in dem Quartier um und steckte rasch noch eine Handvoll Briefe ein, die unordentlich verstreut neben dem Bett lagen.
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Konstantinopel, Topkapi Palast, April 1571
Langsam brach die Nacht herein, aber die Gefangene konnte keine Erleichterung der Qual spüren. Sie war nun seit vier Tagen an den Pfahl gekettet, und der Lebenswille hatte ihren gebrochenen Körper schon lange verlassen. Für sie bestand kein Unterschied zwischen den gnadenlosen Stunden der sengenden Sonne – in denen ihre Haut Blasen warf und sich schälte wie die eines gekochten Tieres – und den endlosen Stunden der pechschwarzen Finsternis, in denen die Dämonen kamen. Ihr Bewusstsein kam und ging, und sie hatte jeglichen Zeitbezug verloren. Das Einzige, an das sie sich klar und deutlich erinnern konnte, war das Gesicht des guten Geistes, der ihr Wasser brachte. Es musste eine Huri sein – eines der Mädchen, die das Paradies bevölkerten. Obgleich sie wusste, dass ihr der Zugang zum Paradies niemals vergönnt sein würde, da sie eine schwere Sünde begangen hatte, war sie doch sicher, dass das schöne Trugbild, das ihre verdorrten Lippen benetzte, ein göttliches Wesen sein musste.
„Hülya.“ Ihr Name. Es schien, als ob die Stimme, die ihn aussprach, meilenweit entfernt war. „Hülya.“ Sie versuchte, die geschwollenen, verkrusteten Augen zu öffnen, die tief in ihrem Schädel zu brennen schienen. Doch sie hatte keine Kraft mehr. Ein Stöhnen entrang sich ihrer misshandelten Kehle, und sie spürte den kühlen Ton des Wasserkruges an den blutenden Lippen. Allerdings klebte ihre Zunge am Gaumen, sie konnte den Mund nicht öffnen und die lebensrettende Flüssigkeit rann verschwendet ihr Kinn hinab. Sie fühlte einen Finger zwischen den Zähnen, der versuchte, ihren Mund aufzuzwingen. Aber es war, als ob sich ihr Körper gegen sie verschworen hatte.
„Hülya“, wiederholte Elissa, entsetzt über den furchtbaren Zustand des Mädchens. Sie hatte während der vergangenen beiden Tage keine Gelegenheit gefunden, nach ihr zu sehen. Und seit sie das letzte Mal bei ihr gewesen war, hatte sich ihr Zustand besorgniserregend schnell verschlechtert. Ihre Füße waren von ihren eigenen Exkrementen bedeckt, aus denen Fliegen und Käfer ihren Körper hinaufkrochen, der mit getrocknetem Blut und gelblich-rotem Eiter bedeckt war. Ihr Haar war verfilzt, das Gesicht das einer uralten Frau. Die ehemals üppigen Formen waren ausgemergelt und schmutzverkrustet. Von dem schönen Mädchen war nichts geblieben außer einem traurigen Haufen Knochen. Trotz der unmenschlichen Hitze rann Elissa ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Noch niemals zuvor hatte sie gewünscht, dass jemanden der Tod ereilt. Doch in diesem Augenblick, da sie vor dem armen Mädchen stand, betete sie von ganzem Herzen, dass Hülya bald von ihrem Leiden erlöst würde.
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Es war so weit! In wenigen Minuten war die blonde Metze Geschichte! Gümüs war Elissa durch das Peristyl um den Beschneidungspavillon herum hinterhergeschlichen und kauerte nun hinter einer der dicken Säulen. Sie war zurückgeeilt, um die Valide Sultan zu informieren, die wutentbrannt nach den Janitscharen geschickt hatte. Gümüs war gerade
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