Die Töchter der Lagune
Sultan über Leben und Tod entscheiden, und sie hatte mehrere gute Gründe, ihren Sohn nicht von dieser kleinen Verhandlung in Kenntnis zu setzen. „Aber ich kann ein anderes Urteil über dich fällen.“ Elissas Magen verkrampfte sich vor Furcht. „Die Hände, die das abscheuliche Verbrechen begangen haben, sollen abgehackt werden. Das Urteil wird sofort vollstreckt!“ Mit einer herrischen Geste wies sie die beiden Wachen an, Elissa zu entfernen. Gerade als einer von ihnen roh nach ihrem Arm griff, kam es vor der hohen, mit Blattgold beschlagenen Doppeltür zu einem Aufruhr. Dann wurde einer ihrer Flügel mit solcher Gewalt aufgestoßen, dass er mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand schlug. Mehrere bewaffnete Janitscharen stürmten die Halle und gingen in zwei Reihen in Stellung, um dem erzürnten Selim, der ihnen hinterherstürzte, einen Gang zu bahnen.
Ein entsetztes Flüstern lief durch die Menge der Frauen, bevor sie alle zu Boden sanken. „Hinaus!“, brüllte Selim. „Alle! Hinaus!“ Sein Gesicht war scharlachrot angelaufen vor Wut, und die fetten Hände zitterten heftig. Darauf bedacht, den Blick der Soldaten zu meiden, huschten die Frauen mit gesenkten Häuptern aus der Halle, wobei ihre kostbaren Gewänder laut in der inzwischen eingetretenen, tödlichen Stille raschelten. Elissa, die immer noch in der schmerzhaften Umklammerung des Janitscharen gefangen war, hatte Selim noch niemals so wütend erlebt. Nicht einmal in der Nacht, in der er von ihr verlangt hatte, mit Hülya zu schlafen. „Wie kannst du es wagen?“, zischte er und näherte sich seiner Mutter, die am Fuß ihres thronähnlichen Stuhles in einen verächtlichen Knicks gesunken war. „Wie kannst du es wagen?!“ Elissa zuckte bei der gebrüllten Wiederholung der Frage unwillkürlich zusammen. „Steh auf!“
Beinahe träge befolgte die Valide Sultan den Befehl ihres Sohnes und hob den Blick, um ihn provokativ anzufunkeln. „Sie hat ein Verbrechen verübt“, erwiderte sie ruhig. „Und ich wollte dich nicht mit solch einer Nichtigkeit belästigen.“ „Ich habe bereits alles über dieses angebliche Verbrechen gehört!“, tobte Selim, wobei ihm der Speichel vom Mund spritzte. Dann plötzlich, als wäre aller Zorn auf einmal von ihm abgefallen, sagte er gefährlich ruhig: „Weißt du, dass ich dich wegen Hochverrates hinrichten lassen könnte?“ Ein Schatten der Furcht huschte über das Gesicht seiner Mutter, doch sie fasste sich schnell wieder. „Hochverrat? Weshalb?“, fragte sie beinahe spöttisch. „Wegen versuchten Mordes an der zukünftigen Valide Sultan !“ Seine Worte hatten einen ätzenden Unterton.
„Was?!“ Jegliche Spur gespielten Respekts fiel wie ein Mantel von ihr ab. „Du hast doch hoffentlich nicht vor, diese …“ „… Sklavin zu heiraten?“, beendete er die Frage ironisch. „Warum denn nicht? Schließlich bin ich der Sohn einer russischen Sklavin!“ Elissa hielt die Luft an. Die Janitscharen um sie herum schienen den Streit zwischen Mutter und Sohn ausblenden zu können, doch sie war dazu nicht in der Lage. Es war Wahnsinn! Hatte er wirklich vor, sie zu ehelichen? „Das kannst du nicht“, platzte Roxelana heraus. „ Ich bin die Valide Sultan, das Oberhaupt des Harems ! Ich werde meine Stellung nie an so eine …“, sie suchte nach dem richtigen Wort. Doch nichts schien ausreichend, um ihrer Verachtung Ausdruck zu verleihen. Selim hatte sich ihr genähert und war nun so nah, dass sie instinktiv den Oberkörper nach hinten neigte. Er schob den Kopf näher, bis seine Nase die seiner Mutter beinahe berührte. „Du wirst abdanken, wenn ich es dir befehle! Dieses Mädchen …“, er wirbelte herum, um auf Elissa zu weisen, die sich den schmerzenden Arm rieb, den der Janitschar im Verlauf der Unterhaltung freigegeben hatte, „… trägt meinen Sohn!“ Roxelana erbleichte. Sie war beinahe sicher gewesen, dass ihr Sohn zeugungsunfähig war. Sie hatte bereits andere Pläne für seine Nachfolge. Doch schließlich konnte sie ihm nicht gut von seinen Vettern und Neffen erzählen, die sie in der Hoffnung auf ihre Unterstützung umschwärmten.
„Ohne mich wärst du ja nicht einmal Sultan!“, spielte sie ihre letzte Trumpfkarte. Hatte nicht sie all die Hindernisse auf seinem Weg zum Thron beiseitegeräumt? Zuerst hatte sie gegen seinen älteren Stiefbruder Mustafa, den Sohn Süleymans und Gulfems – ihrer Vorgängerin – intrigiert, bis Süleyman endlich befohlen hatte, ihn
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