Die Töchter der Lagune
unterdrückte einen erleichterten Seufzer. „Aber Signor Brabantio!“ Rodrigo hatte die Stimme erhoben, aber Desdemonas Vater unterbrach ihn barsch. „Bitte verlasst mein Haus, Signore , und kommt nicht wieder, bevor Ihr Euren Lebenswandel nicht gründlich geändert habt!“ Desdemona führte die Hand zum Mund, um einen Laut zu unterdrücken, der sie verraten hätte. Ihre Gedanken überschlugen sich, während ihr Herz einen Schlag aussetzte. Bedeutete das etwa, dass ihr Vater Rodrigo als zukünftigen Ehemann für sie in Betracht ziehen würde, sollte er das Trinken aufgeben? Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihre Arme legte, und sie schlug ein Kreuz vor der Brust. Heiliger Vater im Himmel, bewahre mich vor diesem Schicksal!, dachte sie. Lass sie alle erkennen, wie widerlich er ist! Denn auf der anderen Seite war er außergewöhnlich wohlhabend, somit also eine gute Partie. Kaum war die Tür hinter Rodrigo ins Schloss gefallen, schüttelte sie den furchtbaren Gedanken ab und zog Angelina, die neben ihr kauerte, auf die Beine. „Lass uns gehen“, flüsterte sie und begann, auf wackeligen Beinen die Treppen hinunterzusteigen.
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Es war ihr kaum möglich, sich auf die Predigt zu konzentrieren, obgleich sie die vorweihnachtlichen Bräuche schon immer geliebt hatte. Wie gewöhnlich saßen sie in dem für ihre Familie reservierten Gestühl – die prachtvolle Decke des Passionsgewölbes hoch über ihren Köpfen. Von ihrem Sitzplatz aus konnte Desdemona Christoforo nicht sehen, da dieser weiter vorn im Hauptschiff Platz genommen hatte. Langsam und vorsichtig, um die anderen Mitglieder der Gemeinde nicht zu stören, legte sie den Kopf in den Nacken und betrachtete die farbenprächtigen Mosaiken, während die Predigt an ihr vorbeiplätscherte. Irgendwie beruhigte es ihre Nerven, sich damit abzulenken, da sie fürchtete, sich ansonsten allein durch ihre Gedanken zu verraten. Obwohl eine Vielzahl von Kerzen und Fackeln im Inneren des düsteren Gebäudes entzündet worden waren, war es schwierig, die Einzelheiten des Gewölbes im Dämmerlicht auszumachen. In dramatischen Szenen bildete das Passionsgewölbe den Judaskuss, die Gefangennahme und Kreuzigung Christi, die Frauen am leeren Grab, Christus in der Vorhölle und den Auferstandenen im Kreise seiner Jünger mit dem ungläubigen Thomas ab. Sie kannte all die Details der schillernden Darstellungen, da es seit ihrer Kindheit eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war, sie zu betrachten. Und am heutigen Tag hatte sie besonderes Glück. Gerade als sie die Augen zusammenkniff, um die Gesichter der trauernden Frauen besser zu erkennen, brach die Sonne durch die Gaden und badete die Figuren in goldenem Licht.
Sie war so in die Betrachtung der mittelalterlichen Meisterwerke versunken, dass sie die Aufforderung zum Gebet verpasste. Rüde stieß ihre Schwester sie in die Rippen, und ihre Mutter warf ihr einen tadelnden Blick zu, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Hastig glitt Desdemona von ihrem hochlehnigen Stuhl und kniete auf dem harten Steinfußboden nieder, die Hände in einer Geste des frommen Gebetes aneinandergepresst. Sie fühlte einen leichten Stich des Gewissens, da ihr im Moment nichts ferner lag, als mit Gott zu kommunizieren. Alles, wonach sie sich sehnte, war, die Kirche zu verlassen und ihre Arme um den Mann zu schlingen, den sie von ganzem Herzen liebte. Aber Gott würde sicherlich Verständnis dafür haben. War die Liebe nicht eine der christlichen Kardinaltugenden? Nach einer scheinbaren Ewigkeit ließ der Bischof sie aufstehen und beendete den Gottesdienst mit einem Psalm. Als seine Stimme und der Segen, den er erteilt hatte, verhallt waren, erhoben sich die Männer und Frauen, die dieser vorweihnachtlichen Messe beigewohnt hatten, und begannen, auf die vier Porte, die Türen, die auf die Piazza San Marco hinausführten, zuzudrängen. Plötzlich unsicher blickte sie Angelina an, die kaum wahrnehmbar nickte, und steuerte auf einen der Ausgänge zu, wo sie Christoforos Barett im Meer der den Gang auf und ab tanzenden Köpfe erspäht hatte. Wie versprochen sorgte Angelina dafür, dass sie von ihren Eltern getrennt wurde, und Desdemona beschleunigte die Schritte, um auf den vereinbarten Treffpunkt zuzueilen. Nachdem sie sich auf äußerst undamenhafte Art und Weise mit den Ellbogen den Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte, verließ sie den Dom schließlich durch die Porta di San Alippio . Dann bog sie um die Ecke und
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