Die Töchter der Lagune
„Seid Ihr das, Rodrigo?“ Ein ungehaltener Unterton schwang in seiner vom Schlaf kratzigen Stimme mit. „Ich habe Euch gesagt, Ihr sollt Euch von meinem Haus fernhalten! Meine Tochter ist nichts für Euch! Und jetzt kommt Ihr hierher – angetrunken und mutig – und stehlt mir den Schlaf?“ Das Gesicht des alten Mannes war vom Standpunkt der beiden aus nur ein helles Oval, das inmitten einer dunklen Fläche schwebte. Aber sie konnten sich den Ausdruck, der im Moment auf ihm liegen musste, nur zu gut ausmalen. „ Signore “ , begann Rodrigo, doch der erzürnte Brabantio fuhr ihm augenblicklich dazwischen. „Ihr könnt sicher sein, dass dies unangenehme Folgen für Euch haben wird! Ich habe mächtige Freunde! Einen Senator aus dem Schlaf zu reißen …“, murmelte er ärgerlich, bevor er Anstalten machte, die Läden wieder zuzuschlagen. Rodrigo hob beschwichtigend die Hand. „Wartet doch, Signore. “ Der Senator blinzelte auf den ungestümen Lebemann hinab und seufzte. „Was soll das Geschrei von Diebstahl? Dies ist Venedig, nicht irgendeine einsame Kate. Ich habe Wachen!“ „ Signore , warum haltet Ihr uns für Schurken, obwohl wir gekommen sind, um Euch einen Dienst zu erweisen?“ Jago war aus dem Schatten des Gebäudes getreten. „Wer seid Ihr?“ Signor Brabantio lehnte sich ein wenig weiter aus dem Fenster, um den Mann zu erkennen, der soeben gesprochen hatte. „Ich bin derjenige, der gekommen ist, um Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass Eure Tochter und Christoforo Moro soeben Euren Enkel zeugen.“ Dem alten Mann blieb vor Entsetzen die Luft weg. „Lügner!“, zischte er. „Ich werde Euch dafür zur Rechenschaft ziehen, Rodrigo!“
„ Signore, ich will mich gerne wegen jedweder Anklage gegen meine Person verantworten, wenn Ihr mir sagt, dass sie Eure Zustimmung haben.“ Rodrigos Ton war eindringlich. „Solltet Ihr allerdings so unwissend sein, wie ich vermute“, fuhr er mit angeekelter Miene fort, „dann tut Ihr uns unrecht.“ Er heftete den Blick auf das verschwommene Gesicht des Senators, der wie vom Donner gerührt schien und nicht vermochte, etwas auf diese ungeheuerliche Anschuldigung zu erwidern. Daher fuhr der junge Mann fort: „Eure Tochter hat Euch hintergangen und gegen ihre Pflicht verstoßen. Geht doch und seht nach, ob ich die Wahrheit sage. Seht, ob sie in ihrer Kammer oder sonst wo in Eurem Haus aufzufinden ist. Falls Ihr sie findet, könnt Ihr mich der Stadtwache übergeben.“ Einen Wimpernschlag lang geschah gar nichts. Aber dann vernahmen sie das Rascheln teurer Stoffe, als der besorgte Vater, den sie so rüde aus dem Schlaf gerissen hatten, herumwirbelte und ins Innere des Hauses rief: „Bringt mir ein Licht! Weckt meine Männer!“ Mit diesen Worten verschwand Brabantios Gestalt vom offenen Fenster.
„Ich muss jetzt gehen“, informierte Jago seinen Begleiter. „Ich möchte nur ungern erkannt werden.“ Er strich sich gedankenverloren über den blonden Spitzbart und nagte an der Unterlippe. Für den Fall, dass der Feldzug gegen die Osmanen den Dogen davon abhalten sollte, Moro aufs Härteste zu bestrafen, würde er vorerst vorgeben, unter dessen Flagge zu kämpfen. Weshalb er den Mistkerl warnen würde – und dieser aus Dankbarkeit seine Entscheidung den Leutnantsposten betreffend noch einmal überdenken würde! Ganz egal, wie diese Sache ausging, Jago würde als Gewinner aus ihr hervorgehen. Mit einem nur mühsam unterdrückten Schauer des Abscheus ergriff er die weiche Hand, die Rodrigo ihm entgegenhielt, und schüttelte sie. Die dicken, mit Diamantenreifen beringten Finger fühlten sich an wie halbgebrühte Würste. Im Inneren des mittlerweile hell erleuchteten Palazzo riefen schrille weibliche Stimmen und die tieferen, volltönenderen Bässe der Männer aufgeregt durcheinander. Hastig zog Jago seine Hand aus dem feuchten Griff des jungen Edelmannes zurück und wandte sich zum Gehen. „Führt die Suchmannschaft zum Sagittar, dann werdet Ihr ihn sicherlich finden.“
*******
Venedig, Gasthof zum Sagittar, 24. Dezember 1570
Ihre Augen saugten ohne Scham, dafür jedoch voller Hunger und Neugier, den Körper des anderen auf. Christoforo hatte Desdemona über die Schwelle getragen, und ihr war vor Überraschung der Atem gestockt, als sie die wundervoll geschmückte Hochzeitskammer erblickt hatte. Der dunkle Dielenboden war mit getrockneten Rosenblüten übersäht, und überall auf den Fenstersimsen und der Kamineinfassung flackerten
Weitere Kostenlose Bücher