Die Toechter Egalias
nur zusammentreffen, wenn sie mit ihnen Kinder zeugten. Durch die sogenannte Zehnermusterung wurde das Schicksal aller Knaben besiegelt. Jedes Jahr im Frühling wurde der ganze Jahrgang der zehnjährigen Knaben einem Richterinnenkollegium vorgeführt, das beurteilte, ob sie Zeugungsknechte oder Arbeitsgehilfen werden mußten. Nur zehn Prozent wurden als geeignet befunden, Zeugungsknechte zu werden. Der Rest wurde nach Fallüstrien geschickt, um dort in den Bergwerken oder in Werkstätten zu arbeiten, oder mußte sich als Holzfäller in abgelegenen Gegenden verdingen. Darüber, wie die Männer in Fallüstrien oder den weiten Einöden zu leben gezwungen waren, wissen wir sehr wenig, denn es gibt keine schriftlichen Quellen. Wir können nur vermuten, daß es trostlos gewesen sein muß. Über die Lebensweise der Zeugungsknechte wissen wir etwas mehr, da diese ja häufig Kontakt mit der Gesellschaft hatten.
Sie lebten in Zelten in einem Reservat, das sie nur mit einer Sondergenehmigung verlassen durften. An den Abenden vor den großen Festtagen kamen die Frauen, nachdem sie sich durch Weingenuß Mut angetrunken hatten, gewöhnlich scharenweise zu ihnen. Die Erlaubnis, das Reservat zu verlassen, erhielten solche Zeugungsknechte, die dam für besonders gutgebaut und begabt hielt. Sie durften sich dann eine gewisse Zeit frei bewegen und ihren Samen anbieten. Diese wenigen privilegierten Männer gelangten in der Gesellschaft zu hohem Ansehen und waren oft Väter von mehreren hundert Kindern. Nach unserem heutigen Empfinden wurden die Männer in der Zeit des großen Aufstiegs brutal und unwibschlich behandelt. Aber die Egalitaner der Vergangenheit dachten keineswegs so. Wir dürfen dabei nie vergessen, eine historische Epoche nach ihren eigenen Voraussetzungen zu beurteilen. Daß Männer am allgemeinen gesellschaftlichen Leben nicht teilhatten, war damals eine Selbstverständlichkeit. Männer waren in jener Zeit Nutzgeschöpfe, ähnlich wie die Haustiere. Die Auffassung unserer Zeit, daß alle wibschlichen Wesen gleiche Rechte haben, wäre bei den Egalitanem der Aufstiegszeit auf Unverständnis gestoßen. Sie hätten sicher behauptet, ihr Gesellschaftssystem sei, gemessen an früheren, ungeheuer fortschrittlich. Wir müssen uns daran erinnern, daß in der Glanzzeit, die der Zeit des großen Aufstiegs voranging, die Männer als überflüssige, ja schädliche Wesen angesehen wurden. Nur etwa zehn Prozent überlebten die ersten zehn Lebensjahre. Leider wissen wir nichts von den sozialen Verhältnissen der Glanzzeit.“
Der kleine, mollige Fandango sah vom Buch auf. ,Glanzzeit’ , dachte er und sah verträumt vor sich hin. Wie haben die damals wohl gelebt? In dem Namen lag etwas Abenteuerliches. In Gedanken sah sich Fandango in einem großen Haus. Mit einem weiten, bequemen Gewand angetan, saß er in einem großen, weichen Sessel zwischen Säulen und weißen Tauben und befahl seinem Diener, ihm einen Zeugungsknecht zu holen, denn er langweilte sich. Der würde ein bißchen mit ihm plaudern, und ihm auf einem silbernen Tablett Wein und Früchte an das Schwimmbecken im Atrium seines geräumigen Hauses bringen, ehe sie ein süßes, begabtes Kind zeugten, das nach Möglichkeit Fandangos Intelligenz, Schönheit und irdische Fraulichkeit erben sollte.
Plötzlich wurde es dem kleinen Fandango unendlich traurig ums Herz. Wer hatte denn gesagt, daß er eine Frau gewesen wäre, wenn er in der Glanzzeit gelebt hätte? Wer hatte ihm das bloß eingeredet? Wer? Wer?
Egalsund bei Nacht
„Baldrian, schläfst du?“
„Hmmmmmmm...“
Fandango lag ganz still und lauschte, ob Baldrian wirklich gleichmäßig atmete. Immer hielt er ihn zum besten und tat so, als schlafe er schon. Aber seine Decke bewegte sich. Es war so gemütlich, vor dem Einschlafen sich noch ein bißchen zu unterhalten. Manchmal durfte Fandango zu ihm unter die Decke kriechen und dort liegen, bis Baldrians Bett angewärmt war. Dann mußte er allerdings wieder zurück in sein Bett. „Schöne Reise“, wünschten sich Baldrian und Fandango immer, bevor sie einschliefen, nie „Gute Nacht“. „Schöne Reise — jetzt gehe ich ins Traumland.“
„Du? Du schläfst ja gar nicht. Du liegst nämlich nicht still und atmest auch nicht ruhig.“
„Hmmmmmmm...“
„Du, ich habe eine Eins in der Geschichtsarbeit geschrieben! Toll, was?“
„Hmmmmmmm...“
„Du, weißt du, was ich mir überlegt habe? Ich habe darüber nachgedacht, warum die ganze Geschichte nur von Frauen
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