Die Tore der Welt
Merthins Eigentum werden, aber sie wünschte sich, dass er sie
wieder küsste. Nur war er jetzt nicht bei ihr. Er war in der Menge, ein gutes
Stück entfernt, und sprach mit Bessie Bell, der Tochter des Wirts von Bells
Gasthaus. Bessie war ein kleines, kurvenreiches Mädchen, dessen Lächeln die
Männer kess und die Frauen zickig nannten. Caris beobachtete, wie Merthin Bessie
zum Lachen brachte, und wandte den Blick ab.
Das große hölzerne
Kirchenportal öffnete sich. Jubel brandete auf, und die Braut trat heraus.
Margery war ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren. Sie war ganz in Weiß
gekleidet und trug Blumen im Haar. Der Bräutigam folgte ihr: ein großer, ernst
dreinblickender Mann, zehn Jahre älter als die Braut.
Beide sahen
hundeelend aus.
Sie kannten
einander kaum. Bis zu dieser Woche hatten sie sich nur einmal gesehen. Das war
vor sechs Monaten gewesen, als die beiden Grafen die Hochzeit arrangiert
hatten. Es gab ein Gerücht, dass Margery einen anderen liebte; aber es kam
natürlich nicht infrage, Graf Roland den Gehorsam zu verweigern. Ihr
frischgebackener Gemahl wirkte wie ein Gelehrter: Er sah aus, als würde er sich
lieber irgendwo in einer Bibliothek verkriechen und ein Buch über Geometrie
lesen. Wie ihr gemeinsames Leben wohl aussehen würde? Caris konnte sich nur
schwer vorstellen, dass die beiden eine so feurige Leidenschaft füreinander
entwickelten wie sie und Merthin.
Eigentlich,
überlegte Caris, war sie undankbar. Sie konnte sich glücklich schätzen, nicht
die Nichte eines Grafen zu sein. Niemand würde sie zu einer Ehe zwingen. Sie
konnte den Mann heiraten, den sie liebte — und was tat sie? Sie suchte ständig
nach Gründen, genau das nicht zu tun.
Merthin kam durch
die Menge auf sie zu. Caris begrüßte ihn mit einer Umarmung und einem Kuss auf
die Lippen. Er schaute sie überrascht an, bemerkte aber nichts dazu. Viele
Männer hätten bei Caris‘ Stimmungsschwankungen längst den Mut verloren, doch
Merthin besaß bewundernswertes Durchhaltevermögen.
Sie standen nebeneinander
und beobachteten, wie Graf Roland aus der Kirche kam, gefolgt vom Grafen und
der Gräfin von Monmouth. Dann kamen Bischof Richard und Prior Godwyn. Caris bemerkte,
dass ihr Vetter zufrieden und besorgt zugleich aussah — fast wie der Bräutigam.
Der Grund dafür war zweifellos, dass er soeben zum Prior geweiht worden war.
Eine Eskorte von
Rittern formierte sich: die Männer von Shiring in Rolands Rot und Schwarz, die
Männer aus Monmouth in Gelb und Grün. Der Zug setzte sich in Richtung Ratshalle
in Bewegung. Dort gab Graf Roland ein Bankett für die Hochzeitsgäste. Edmund
und Petronilla nahmen an der Feier teil, doch Caris hatte sich herausreden
können.
Als der
Hochzeitszug den Kathedralenvorplatz verließ, setzte leichter Regen ein. Caris
und Merthin stellten sich am Portalvordach unter. »Komm mit in den Chor«, sagte
Merthin. »Ich will mir Elfrics Reparaturen ansehen.«
Die Hochzeitsgäste
verließen die Kirche. Merthin und Caris drängten sich gegen den Strom durch die
Menge ins Mittelschiff und weiter ins südliche Seitenschiff des Chorbereichs,
wo das Gewölbe eingestürzt war. Der Chor war dem Klerus vorbehalten; den
Mönchen hätte es gar nicht gefallen, Caris hier zu sehen, doch sie und die
Nonnen waren bereits gegangen. Dennoch schaute Caris sich um, doch es war
niemand zu sehen außer einer Frau, die Caris nicht kannte. Die Frau war
rothaarig, gut gekleidet und um die dreißig. Wahrscheinlich gehörte sie zu den
Hochzeitsgästen. Sie schien auf jemanden zu warten.
Merthin legte den
Kopf in den Nacken und schaute zum Gewölbe im südlichen Chorbereich hinauf. Die
Instandsetzungsarbeiten waren noch nicht ganz abgeschlossen: Ein kleiner Teil
des Gewölbes war noch offen, und eine weiß gestrichene Leinenplane war über die
Lücke gespannt, sodass die Decke bei flüchtigem Blick unbeschädigt zu sein
schien.
»Er macht ganz gute
Arbeit«, bemerkte Merthin. »Ich frage mich nur, wie lange das halten wird.«
»Wieso sollte es
nicht ewig halten?«, fragte Caris.
»Weil wir nicht
wissen, warum das Gewölbe eingestürzt ist. So etwas geschieht nicht ohne Grund.
Allerdings hat Gott nichts damit zu tun, auch wenn die Priester es sagen. Was
immer das Gewölbe hat einstürzen lassen — es wird vermutlich wieder geschehen.«
»Kann man die
Ursache denn nicht herausfinden?« »Ja, aber es ist nicht einfach. Elfric kann
es jedenfalls
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