Die Tore der Welt
sich die Tränen aus den Augen, sodass sie wieder sehen
konnte, und stolperte davon.
»Geh! Lauf weg!«,
rief der Mann ihr hinterher. »Heute ist dein Glückstag!«
Caris konnte nicht
schlafen. Sie stand aus dem Bett auf und ging in Mamas Zimmer. Papa saß auf
einem Hocker und starrte auf die reglose Gestalt im Bett.
Mamas Augen waren
geschlossen, und ihr Gesicht glitzerte von Schweiß im Kerzenschein. Sie schien
kaum noch zu atmen. Caris nahm ihre bleiche Hand: Sie war schrecklich kalt. Sie
hielt sie in ihrer eigenen und versuchte, sie zu wärmen.
Sie fragte: »Warum
haben sie ihr Blut abgenommen?« »Sie glauben, dass Krankheiten manchmal durch
ein Ungleichgewicht der Körpersäfte entstehen. Sie hoffen, diesen Überschuss
mit dem Blut herauszuholen.« »Aber es hat ihr nicht geholfen.«
»Nein. Tatsächlich
scheint es ihr sogar schlechter zu gehen.« Caris traten die Tränen in die
Augen. »Warum hast du es dann zugelassen?«
»Priester und
Mönche studieren die Werke der antiken Philosophen. Sie wissen mehr als wir.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es ist schwer zu
wissen, was man glauben soll, kleine Butterblume.« »Wenn ich Arzt wäre, würde
ich nur Dinge tun, nach denen sich die Menschen besser fühlen.« Papa hörte ihr
nicht zu. Er schaute aufmerksam auf Mama. Er beugte sich vor und schob die Hand
unter die Decke, um ihre Brust just unter dem linken Busen zu berühren. Caris
konnte die Umrisse seiner großen Hand unter der feinen Wolle erkennen. Er gab
ein leises, ersticktes Geräusch von sich, bewegte dann die Hand und drückte
fester zu. Ein paar Augenblicke lang behielt er sie dort.
Papa schloss die
Augen.
Er fiel langsam
nach vorne, bis er neben dem Bett kniete, als würde er beten, die große Stirn
auf Mutters Schenkel und die Hand noch immer auf ihrer Brust.
Caris bemerkte,
dass er weinte. Das war das Furchterregendste, das ihr je widerfahren war, viel
furchterregender, als zuzusehen, wie im Wald ein Mann erschossen wurde. Kinder
weinten, Frauen weinten, und hilflose Leute weinten, aber Papa weinte nie.
Caris hatte das Gefühl, als wäre das Ende der Welt gekommen.
Sie musste Hilfe
holen. Caris ließ Mutters kalte Hand aus ihrer eigenen und auf die Decke
gleiten, wo sie reglos liegen blieb. Sie ging in ihre Kammer und rüttelte die
schlafende Alice an der Schulter. »Wach auf!«, sagte sie.
Zuerst wollte Alice
die Augen nicht öffnen.
»Papa weint!«,
sagte Caris.
Alice saß aufrecht
im Bett. »Das kann nicht sein«, erwiderte sie.
» Steh auf!«
Alice stieg aus dem
Bett. Caris nahm ihre ältere Schwester an der Hand, und gemeinsam gingen sie in
Mutters Kammer. Papa stand jetzt wieder und schaute auf das bleiche Gesicht auf
dem Kissen hinunter. Sein Gesicht war nass von Tränen. Alice starrte ihn entsetzt
an. Caris flüsterte: »Das habe ich dir doch gesagt.«
Auf der anderen
Seite des Bettes stand Tante Petronilla.
Papa sah die Mädchen
in der Tür stehen. Er löste sich vom Bett und kam zu ihnen. Dann legte er je
einen Arm um sie und zog sie an sich. »Eure Mama ist zu den Engeln gegangen«,
sagte er leise. »Betet für ihre Seele.«
»Seid tapfer,
Mädchen«, sagte Tante Petronilla. »Von nun an werde ich eure Mutter sein.«
Caris wischte sich
die Tränen aus den Augen und schaute zu ihrer Tante hoch. »O nein«, entgegnete
sie. »Ganz bestimmt nicht.«
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ZWEITER TEIL
8. bis 14. Juni 1337
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KAPITEL 6
Es war das Jahr, in
dem Merthin einundzwanzig wurde, als am Pfingstsonntag sintflutartiger Regen
auf die Kathedrale von Kingsbridge niederging.
Dicke Tropfen
prasselten auf die Schieferdächer, und reißende Ströme ergossen sich in die
Rinnsteine. Fontänen schossen aus den Mäulern der Wasserspeier, Kaskaden rauschten
die Strebepfeiler hinunter, und Sturzbäche ergossen sich über Bögen und Säulen
und netzten die Statuen der Heiligen. Der Himmel, die große Kirche, die Stadt
rundum — alles war grau in grau.
Am Pfingstsonntag
gedachte man des Augenblicks, da der Heilige Geist auf die Jünger Jesu herab
gefahren war. Es war der siebte Sonntag nach Ostern, der entweder in den Mai
fiel oder in den Juni, kurz nach der Schur. Deshalb war der Pfingstsonntag
stets der erste Tag des Wollmarktes von Kingsbridge.
Merthin zog in dem
sinnlosen Versuch, sein Gesicht trocken zu halten, die Kapuze in die Stirn und
platschte durch den Platzregen zum Morgengottesdienst in die Kathedrale. Dabei
führte sein Weg direkt
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