Die Tore der Welt
Wand stand. Dazu hielt er ein
Senkblei an langer Schnur aus dem Fenster. Und dabei machte er eine Entdeckung.
In der Wand waren
Risse. Risse waren nicht unbedingt ein Zeichen für Schäden: Ihre Bedeutung
musste von einem erfahrenen Auge ausgelegt werden. Alle Gebäude arbeiteten, und
Risse zeigten womöglich nur, wie ein Bauwerk sich Veränderungen anpasste.
Merthin hatte den
Eindruck, dass die meisten Risse in der Wand dieses Lagerraums gutartig waren.
Einen aber gab es, der ihn durch seine Form verwirrte. Er sah nicht normal aus.
Ein zweiter Blick verriet ihm, dass jemand sich einen natürlichen Riss zunutze
gemacht hatte, um einen kleinen Stein zu lockern. Er zog den Stein heraus.
Sofort begriff er,
dass er ein Geheimversteck gefunden hatte.
Der Hohlraum hinter
dem Stein war das Beutelager eines Diebes.
Einen nach dem
anderen nahm er die Gegenstände heraus, die darin lagen: eine Frauenbrosche mit
einem großen grünen Stein, eine silberne Gürtelschnalle, ein Seidenschal und
eine Schriftrolle mit einem Psalm. Ganz hinten fand er den Gegenstand, der ihm
einen Hinweis auf die Identität des Diebes lieferte. Er war das Einzige in dem
Loch ohne Geldwert, ein einfaches Stück aus poliertem Holz, in dessen
Oberfläche Buchstaben geschnitzt waren: M:Phmn:AMAT
M war nur ein
Anfangsbuchstabe. Amat war das lateinische Wort für »liebt«. Und »Phmn«
bedeutete gewiss Philemon.
Jemand, dessen Name
mit M begann, Junge oder Mädchen, hatte einst Philemon geliebt und ihm das Holz
geschenkt; und er hatte es bei seinen gestohlenen Kostbarkeiten versteckt.
Seit seiner
Kindheit hieß es von Philemon, dass er die Finger nicht bei sich behalten
könne. Wo er sich aufhielt, fehlten nachher Dinge. Anscheinend war dieses
Mauerloch der Ort, wo er sie versteckte. Merthin stellte sich vor, wie er
allein hier herauf kam, des Nachts vielleicht, um den Stein herauszuziehen und
sich an seinen Beutestücken zu ergötzen. Ohne Zweifel war das eine Art von
Krankheit.
Nie hatte es ein
Gerücht gegeben, dass Philemon eine Liebesaffäre hätte. Wie sein Mentor Godwyn
schien er zu der kleinen Minderheit von Männern zu gehören, bei denen das
Bedürfnis nach körperlicher Liebe nur schwach ausgeprägt war. Jemand hatte ihn
aber begehrt, irgendwann einmal, und Philemon war die Erinnerung daran teuer.
Merthin legte die
Gegenstände wieder genauso zurück, wie er sie vorgefunden hatte — er besaß ein
gutes Gedächtnis für solche Dinge. Nachdem er den losen Stein wieder ins Loch
geschoben hatte, verließ er nachdenklich den Raum und stieg die Wendeltreppe
hinunter.
Ralph war
überrascht, als Philippa heimkam.
Es war an einem
selten schönen Tag in jenem feuchten Sommer, und er wäre zu gern auf die
Falkenjagd gegangen, aber zu seinem Verdruss ging das nicht. Die Ernte stand
bevor, und die meisten der zwanzig oder dreißig Verwalter, Büttel und Vögte der
Grafschaft mussten ihn dringend sprechen. Sie alle führten dieselbe Klage: Die
Ernte reifte auf den Feldern, und sie hatten zu wenig Knechte und Mägde, um sie
einzubringen.
Helfen konnte er
ihnen nicht. Er hatte bei jeder Gelegenheit Knechte verfolgt, die sich der
königlichen Verordnung widersetzten, indem sie auf der Suche nach höherem Lohn
ihre Dörfer verließen. Aber die wenigen, die gefangen wurden, zahlten die
Strafe von ihrem höheren Verdienst und liefen erneut weg. Daran konnten seine
Vögte nichts ändern. Dennoch wollte ihm jeder Einzelne seine Schwierigkeiten
darlegen, und Ralph blieb keine Wahl, als ihnen zu zuhören und ihren hastig
entworfenen Plänen zu zustimmen.
Der Saal war voller
Menschen: Vögte, Ritter, Soldaten, zwei Priester und mehr als ein Dutzend
herumlungernder Diener. Als sie alle still wurden, hörte Ralph plötzlich von
draußen die Krähen; ihr rauer Schrei klang wie ein Warnruf. Als er aufblickte,
sah er Philippa in der Tür stehen.
Die Dienerschaft
sprach sie zuerst an. »Martha! Der Tisch ist noch schmutzig vom Mittagessen.
Hol sofort heißes Wasser, und schrubbe ihn ab. Dickie — ich habe gerade
gesehen, dass das Lieblingspferd des Grafen von Schlamm starrt, und der ist
nicht frisch, aber du sitzt hier herum und schnitzt an einem Stock. Zurück in
den Stall, wo du hingehörst, und mach das Tier sauber. Du, Junge, bring deinen
Welpen nach draußen, er hat gerade auf den Boden gepisst. Der einzige Hund, der
in den Saal darf, ist der Mastiff des Grafen, das weißt du genau.« Die
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