Die Tore der Welt
ich auch
nicht.«
»Also bringst du
das Kind zur Welt.«
»Ja. Aber was
dann?«
»Angenommen, du
bleibst im Kloster und hältst das Kind geheim? Im Kloster wimmelt es von
Kindern, die die Pest zu Waisen gemacht hat.«
»Die Liebe einer
Mutter könnte kein Geheimnis bleiben. Jeder würde wissen, dass sich dieses Kind
meiner besonderen Fürsorge erfreute. Und davon würde Ralph erfahren.«
»Du hast recht.«
»Ich könnte
fortgehen — verschwinden. Nach London, nach Paris, nach Avignon. Niemandem
sagen, wohin ich gehe, sodass Ralph mich nie finden würde.«
»Und ich könnte mit
dir gehen.«
»Aber dann würdest
du deinen Turm nie vollenden.« »Und du würdest Odila vermissen.«
Philippas Tochter
war seit sechs Monaten mit Graf David verheiratet. Merthin konnte sich
vorstellen, wie schwer es für Philippa wäre, sie zu verlassen. Und für ihn wäre
es wahrlich sehr schmerzhaft, den Turm im Stich zu lassen. Seit er erwachsen
war, hatte er das höchste Gebäude Englands errichten wollen. Nun, da er endlich
begonnen hatte, würde es ihm das Herz brechen, sein Vorhaben aufzugeben.
Bei dem Gedanken an
den Kirchturm trat ihm Caris vor Augen. Seit Wochen hatte er sie nicht gesehen:
Sie hatte krank im Bett gelegen, nachdem sie beim Wollmarkt einen Schlag auf
den Kopf bekommen hatte, und nun verließ sie, obwohl sie vollkommen wiederhergestellt
war, die Priorei kaum noch. Merthin vermutete, dass sie eine Art Machtkampf
verloren hatte, denn Bruder Sime leitete nun das Hospital. Für Caris wäre
Philippas Schwangerschaft ein weiterer vernichtender Schlag.
Philippa fügte
hinzu: »Und Odila trägt ebenfalls ein Kind unter dem Herzen.«
»So bald schon! Das
ist eine gute Neuigkeit. Aber zugleich ein Grund mehr, weshalb du nicht ins
Exil gehen kannst: Du würdest nicht nur sie nie Wiedersehen, sondern auch dein
Enkelkind niemals zu Gesicht bekommen.«
»Ich kann nicht
fliehen, und ich kann mich nicht verstecken. Aber wenn ich nichts tue, wird
Ralph mich töten.«
»Es muss einen
Ausweg geben«, sagte Merthin.
»Mir will nur eine
Möglichkeit einfallen.« Er sah sie an und begriff, dass sie sich alles bereits
überlegt hatte. Sie schilderte ihm ihre Not erst jetzt, wo sie eine Lösung
wusste. Zugleich hatte sie ihm behutsam gezeigt, dass alle offensichtlichen
Wege falsch wären. Es konnte nur bedeuten, dass ihm der Plan, für den sie sich
entschieden hatte, nicht gefallen würde.
»Sag es mir«,
forderte er sie auf.
»Wir müssen Ralph
glauben machen, das Kind wäre von ihm.« »Aber dazu müsstest du … «
»Ja.«
»Ich verstehe.«
Der Gedanke, dass
Philippa mit Ralph schlief, war Merthin zuwider. Sein Gefühl rührte weniger von
Eifersucht her; er wusste, dass sie Ralph nur etwas vorspielen würde. Aber sie
würde sich schrecklich dabei vorkommen, und dieser Gedanke bewegte ihn. Sie verabscheute
Ralph körperlich und seelisch. Merthin verstand ihren Ekel, auch wenn er ihn
nicht teilte. Mit Ralphs Grausamkeit hatte er sein ganzes Leben verbracht, aber
der Unhold war sein Bruder, und daran gab es nichts zu rütteln, ganz gleich,
was Ralph tat. Gleichzeitig bereitete es ihm Übelkeit, dass Philippa sich
zwingen musste, mit dem Mann zu liegen, den sie auf der ganzen Welt am meisten
hasste.
»Ich wünschte, mir
fiele eine bessere Lösung ein«, sagte er.
»Ich auch.«
Er sah sie genau
an. »Du hast dich schon entschieden.« »Ja.«
»Es tut mir sehr
leid.« »Mir auch.«
»Aber wird es
überhaupt gehen? Kannst du ihn … verführen?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Ich muss es versuchen.«
Das Westwerk der
Kathedrale war symmetrisch angelegt, mit zwei niedrigen Türmen, einem im Norden
und einem im Süden. Die Modellkammer lag an der Vorderseite des Nordturms, und
von ihr sah man auf die Vorhalle des Portals hinab. Im Südturm gab es einen
Raum von ähnlicher Größe und Form, von dem man auf den Kreuzgang hinausblickte.
In ihm wurden Dinge von geringem Wert gelagert, die nur selten gebraucht
wurden. So bewahrte man dort zum Beispiel die Kostüme und symbolischen
Gegenstände für die Mysterienspiele auf, dazu eine Reihe von mehr oder weniger
nutzlosen Dingen: Kerzenleuchter aus Holz, rostige Ketten, gesprungene Töpfe
und ein Buch mit derart verrotteten Pergamentseiten, dass die Worte, die jemand
so sorgfältig darauf niedergeschrieben hatte, nicht mehr lesbar waren.
Merthin war hier
hinaufgestiegen, um zu prüfen, wie senkrecht die
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