Die Tore der Welt
allen anderen zwei Männern wäre es das Gleiche. Dass ihr Brüder seid, macht es
nur noch schlimmer.«
Seine Sicht
verschwamm. »Also ist es vorbei mit uns? Jetzt schon?« Sie nickte. »Und ich
muss dir noch etwas sagen, einen weiteren Grund, weshalb wir nie wieder
Geliebte sein können. Ich habe meinen Ehebruch gebeichtet.« Merthin wusste,
dass Philippa ihren eigenen Beichtvater hatte, wie es einer hochrangigen
Adligen zustand. Seit sie nach Kingsbridge gekommen war, hatte er im
Mönchskloster gelebt und eine willkommene Bereicherung des ausgedünnten
Konvents dargestellt. Also hatte sie ihm von der Liebesgeschichte erzählt.
Merthin hoffte, dass er das Beichtgeheimnis zu wahren wusste.
Philippa sagte:
»Ich habe Absolution erhalten, aber ich darf die Sünde nicht fortsetzen.«
Merthin nickte. Sie
hatte recht. Sie hatten beide gesündigt. Sie hatte ihren Gemahl betrogen, er
seinen Bruder. Sie besaß eine Entschuldigung: Zu der Heirat war sie gezwungen
worden. Er hatte nichts vorzubringen. Eine schöne Frau hatte sich in ihn
verliebt, und er hatte ihre Liebe erwidert, obwohl er dazu kein Recht besaß.
Der Schmerz von Trauer und Verlust, den er nun empfand, war die natürliche
Folge solchen Verhaltens.
Er blickte sie an —
die kühlen graugrünen Augen, den verunstalteten Mund, den üppigen Leib — und
begriff, dass er sie verloren hatte. Vielleicht hatte er sie nie wirklich
besessen. In jedem Fall war ihre Beziehung immer falsch gewesen, und nun war sie
vorüber. Er versuchte zu sprechen, ihr Lebewohl zu wünschen, doch seine Kehle
war wie zugeschnürt, und er brachte nichts heraus. Kaum sah er sie weinen. Er
wandte sich ab, tastete nach der Tür und verließ irgendwie das Gemach.
Eine Nonne kam mit einem Krug in der Hand
den Korridor entlang. Er konnte nicht erkennen, wer sie war, aber er erkannte
Caris‘ Stimme, als sie fragte: »Merthin? Bist du wohlauf?«
Er gab keine
Antwort. Er ging an ihr vorbei, durchquerte die Tür und stieg die Außentreppe
hinunter. Blind vor Tränen schritt er über den grasbewachsenen Platz vor der
Kathedrale, folgte der Hauptstraße und erreichte über die Brücke seine Insel.
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KAPITEL 80
Der September des
Jahres 1350 war kalt und nass, und doch lag eine Hochstimmung in der Luft. So
feucht die Weizengarben auch waren, die auf dem Land gebunden wurden, in
Kingsbridge starb während dieses Monats nur noch ein einziger Mensch: Marge Taylor,
eine sechzigjährige Schneiderin. Im Oktober gab es keinen weiteren Ansteckungsfall,
desgleichen im November und Dezember.
Der Schwarze Tod
schien verschwunden zu sein, wenigstens vorerst.
Die alte
Wanderschaft zupackender, ruheloser Menschen vom Land in die Stadt hatte sich
während der Pest umgekehrt, doch nun setzte sie wieder ein. Die Leute kamen
nach Kingsbridge, zogen in leer stehende Häuser, brachten sie wieder in Schuss
und zahlten der Priorei Miete. Einige eröffneten neue Geschäfte — Bäckereien,
Brauhäuser, Kerzenziehereien —, die an die Stelle der alten traten, welche
verschwunden waren, als die Inhaber und alle ihre Erben starben.
Als Ratsältester
machte Merthin es den Menschen einfacher, einen Laden oder Marktstand zu
eröffnen, indem er den langwierigen Genehmigungsprozess abschaffte, an dem die
Priorei stets festgehalten hatte. Auf dem Wochenmarkt ging es immer geschäftiger
zu.
Nacheinander
vermietete Merthin alle Läden, Häuser und Schänken, die er auf Leper Island
errichtet hatte. Seine Mieter waren entweder wagemutige Neuankömmlinge oder
alteingesessene Händler, die einen besseren Standort suchten. Die Straße, die
sich zwischen den beiden Brücken quer über die Insel zog, war zu einer
Verlängerung der Hauptstraße geworden und damit beste Lage — wie Merthin es vor
zwölf Jahren vorhergesehen hatte, als man ihn für verrückt hielt, weil er den
nackten Fels als Bezahlung für seine Arbeit an der Brücke annahm.
Der Winter brach
herein, und erneut hing der Rauch von Tausenden Feuern als niedrige braune
Wolke über der Stadt, aber die Menschen arbeiteten und kauften noch immer, aßen
und tranken, würfelten in den Schänken und gingen des Sonntags in die Kirche.
Die Ratshalle sah
ihr erstes Weihnachtsbankett, seit der Gemeinderat zu einem Stadtrat geworden
war.
Merthin lud Prior
und Priorin zum Mahl. Sie besaßen nicht mehr die Macht, die Kaufleute zu
überstimmen, aber dennoch gehörten sie nach wie vor zu den wichtigsten Leuten
in der
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