Die Tore der Welt
sein lohfarbenes Haar nun durchzogen, ließen ihn nicht
mehr nur stark, sondern auch weise wirken. Als er jung gewesen war, hatten sich
seine breiten Schultern keilförmig zu schmalen Hüften verjüngt; heute waren die
Hüften nicht mehr so schmal und die Keilform nicht mehr so ausgeprägt, doch
noch immer schaffte Wulfric die Arbeit zweier Männer. Und er würde immer zwei
Jahre jünger als Gwenda bleiben.
Sie glaubte sich
weniger verändert zu haben. Gwenda hatte jene Art von dunklem Haar, die erst
spät im Leben grau wird. Sie wog nicht mehr als vor zwanzig Jahren, doch nach
der Geburt der Kinder waren ihre Brüste und ihr Bauch nicht mehr ganz so straff
wie zuvor.
Erst wenn sie ihren
Sohn Davey mit seiner glatten Haut anblickte und seinen ruhelosen, federnden
Schritt sah, spürte sie die Jahre. Er war nun zwanzig und sah aus wie eine
männliche Ausgabe ihrer selbst in diesem Alter. Auch sie hatte ein faltenloses
Gesicht gehabt und war beschwingten Fußes gegangen. Ein von Feldarbeit bei Wind
und Wetter erfülltes Leben hatte ihr runzlige Hände gegeben und sie gelehrt,
langsam zu gehen und ihre Kräfte zu schonen.
Davey war wie
Gwenda klein, scharfsinnig und verschwiegen. Schon als er klein war, hatte sie
nie mit Sicherheit sagen können, was er dachte. Sam war das genaue Gegenteil:
groß und stark, nicht klug genug, um verschlagen zu sein, aber mit einem Hang
zur Grausamkeit, die Gwenda seinem wirklichen Vater, Ralph Fitzgerald, zuschrieb.
Mehrere Jahre lang
hatten die Jungen an Wulfrics Seite auf den Feldern gearbeitet — bis Sam vor
zwei Wochen verschwunden war.
Weshalb er
fortgegangen war, wussten sie genau. Den ganzen Winter lang hatte er davon
gesprochen, Wigleigh zu verlassen und in ein Dorf zu gehen, wo er höheren Lohn
erhielt. Verschwunden war er genau bei Beginn der Frühlingspflugzeit.
Gwenda fand, dass
er recht hatte, wenn er mehr verdienen wollte. Zwar war es verboten, sein Dorf
zu verlassen oder einen höheren Lohn anzunehmen als den, der 1347 üblich
gewesen war, doch im ganzen Land übertraten rastlose junge Männer das Gesetz,
und Bauern, denen keine andere Wahl blieb, stellten sie ein. Grundherren wie
Graf Ralph konnten dagegen kaum mehr unternehmen, als mit den Zähnen zu
knirschen.
Sam hatte nicht
gesagt, wohin er wollte, und seinen Aufbruch mit keinem Wort angekündigt. Wäre
Davey an seiner Stelle gewesen, hätte Gwenda gewusst, dass er alles sorgsam
durchdacht und sich für den besten Weg entschieden hätte. Bei Sam ahnte sie,
dass er aus dem Augenblick heraus gehandelt hatte. Jemand hatte den Namen eines
Dorfes fallen lassen, und Sam war früh am nächsten Morgen aufgewacht und hatte
beschlossen, auf der Stelle dorthin aufzubrechen.
Gwenda sagte sich
immer wieder, ihre Sorgen seien überflüssig. Sam sei zweiundzwanzig Jahre alt,
groß und stark. Niemand werde ihn ausbeuten oder schlecht behandeln. Doch sie
war seine Mutter, und sie vermisste ihn.
Wenn sie Sam nicht
finden konnte, so vermochte es keiner, glaubte sie, und das war gut so. Dennoch
sehnte sie sich danach zu erfahren, wo er lebte, ob er für einen anständigen
Herrn arbeitete und ob die Menschen gut zu ihm waren.
In diesem Winter
hatte Wulfric einen neuen leichten Pflug für die sandigeren Bereiche seines Landes
gebaut, und an einem Tag im Frühjahr gingen Gwenda und er nach Northwood, um
eine eiserne Pflugschar zu kaufen, das einzige Teil, das sie nicht selbst
anfertigen konnten. Wie gewöhnlich reiste eine kleine Gruppe von Leuten aus
Wigleigh zusammen zum Markt. Jack und Eli, die für Madge Webber die Walkmühle
betrieben, stockten ihre Vorräte auf; sie besaßen kein eigenes Land und mussten
alles kaufen, was sie zum Leben brauchten. Annet und ihre achtzehnjährige
Tochter Amabel hatten ein Dutzend Hühner in einem Käfig dabei, die sie auf dem
Markt feilbieten wollten. Auch der Vogt, Nathan Reeve, kam mit seinem
erwachsenen Sohn Jonno mit, der in Kindheitstagen Sams Erzfeind gewesen war.
Annet tändelte noch
immer mit jedem gut aussehenden Mann, der ihr über den Weg lief, und die
meisten von ihnen grinsten dümmlich und ließen sich auf ihr Spiel ein. Auf dem
Weg nach Northwood schwatzte sie mit Davey. Dabei lächelte sie anhimmelnd,
verdrehte den
Kopf und schlug Davey in gespieltem Tadel auf den Arm, als wäre sie zweiundzwanzig
und nicht zweiundvierzig. Sie ist kein Mädchen mehr, aber sie hat es immer noch
nicht erkannt, dachte Gwenda missgelaunt.
Weitere Kostenlose Bücher