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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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aber nicht, einem Grafen zu widersprechen. Er nahm eine
Leiter, die an der Wand lehnte, und schob sie in die Zelle. »Gebt bitte Obacht,
Mylord«, sagte er nervös.
    »Vergesst nicht,
der Schurke hat nichts zu verlieren.«
    Ralph kletterte
hinunter, seine Kerze in der Hand. Der Gestank war widerlich, doch das störte
ihn kaum. Als er das untere Ende der Leiter erreicht hatte, drehte er sich um.
    Sam blickte ihn
voller Groll an und fragte: »Was wollt Ihr denn?« Ralph starrte ihn an. Er
kauerte nieder und hielt die Kerze dicht an Sams Gesicht, studierte seine Züge,
versuchte es mit dem Gesicht zu vergleichen, das er sah, wenn er in den Spiegel
blickte.
    »Was ist?«, fragte
Sam, unruhig unter Ralphs durchdringender Musterung.
    Ralph gab keine
Antwort. Konnte das wirklich sein Sohn sein? Es wäre möglich, dachte er. Sehr
gut möglich. Sam war ein gut aussehender junger Mann, und Ralph hatte man in
seiner Jugend, ehe ihm die Nase gebrochen wurde, stattlich genannt. Im
Gerichtssaal hatte Ralph bereits gedacht, dass Sams Gesicht ihn an etwas erinnere,
und nun konzentrierte er sich, versuchte zu ergründen, an wen Sam ihn denken
ließ. Diese gerade Nase, der Blick der dunklen Augen, der dichte Haarschopf, um
den Mädchen ihn beneidet hätten …
    Dann verstand er.
    Sam sah aus wie
Ralphs Mutter, die verstorbene Lady Maud. »Gütiger Gott«, krächzte er.
    »Was denn?«, fragte
Sam, und seine Stimme verriet Furcht. »Was soll das alles?«
    Ralph musste etwas
sagen. »Deine Mutter …«, begann er, und seine Stimme verebbte. Seine Kehle
schnürte sich vor Bewegung zusammen und erschwerte es ihm, die Worte auszusprechen.
Er setzte neu an. »Deine Mutter hat sich für dich verwendet … auf sehr beredsame
Weise.«
    Sam sah ihn
misstrauisch an und sagte kein Wort. Er glaubte, Ralph wäre zu ihm gekommen, um
ihn zu verhöhnen.
    »Sag mir«, sagte
Ralph. »Als du Jonno mit dem Spaten geschlagen hast — wolltest du ihn da töten?
Du kannst ehrlich sein, du hast nichts weiter zu befürchten.«
    »Natürlich wollte
ich ihn umbringen«, erwiderte Sam. »Er wollte mich anketten.«
    Ralph nickte. »Ich
hätte es genauso gesehen«, sagte er. Er verstummte, starrte Sam lange an und
wiederholte seine Worte: »Ich hätte es genauso gesehen.«
    Er richtete sich
auf, drehte sich zur Leiter um, hielt inne, wandte sich zurück und stellte die
Kerze neben Sam auf den Boden. Dann stieg er die Leiter hoch.
    Der Wärter klappte
das Gitter zu und verschloss es.
    Ralph sagte zu ihm:
»Die Hinrichtung wird abgesagt. Der Gefangene wird begnadigt. Ich werde
augenblicklich mit dem Sheriff sprechen.«
    Als er den Raum
verließ, nieste der Wärter.
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KAPITEL 85
    Als Merthin und
Caris von Shiring nach Kingsbridge zurück kehrten, mussten sie feststellen,
dass Lolla verschwunden war.
    Ihre langjährigen
Hausdiener, Arn und Em, warteten am Gartentor, und es sah aus, als hätten sie
den ganzen Tag dort gestanden. Em setzte zum Sprechen an, brachte jedoch nur
zusammenhanglose Schluchzer hervor, und Arn musste die Neuigkeit offenlegen.
»Wir können Lolla nicht finden«, sagte er niedergeschlagen. »Wir wissen nicht,
wo sie ist.«
    Zuerst missverstand
Merthin ihn. »Zum Abendessen ist sie wieder da«, sagte er. »Reg dich nicht auf,
Em.«
    »Aber gestern Abend
ist sie nicht nach Hause gekommen, und vorgestern auch nicht«, erwiderte Arn.
    Da erst begriff
Merthin, was sie meinten: Lolla war davongelaufen. Ein Anflug von Angst ließ
ihn frösteln wie ein winterlicher Wind und umschloss sein Herz. Sie war erst
sechzehn. Einen Augenblick lang konnte er nicht klar denken. Er stellte sich
nur seine Tochter vor, auf halbem Weg vom Kind zur Erwachsenen, mit den tiefen
dunkelbraunen Augen und dem sinnlichen Mund ihrer Mutter, erfüllt von
unbekümmerter falscher Selbstsicherheit.
    Als er seine
Fassung wiedererlangt hatte, fragte er sich, was fehlgegangen war. Seit Lolla
fünf war, hatte er sie immer wieder einige Tage lang in der Obhut von Arn und
Em zurückgelassen, und nie war etwas geschehen. Hatte sich etwas verändert?
    Er wurde gewahr,
dass sie seit dem vergangenen Ostersonntag, der zwei Wochen zurücklag und an
dem er sie am Arm gepackt und von ihren zwielichtigen Freunden vor dem White
Horse weggezerrt hatte, kaum ein Wort miteinander gesprochen hatten. Lolla
hatte sich oben in ihrem Zimmer verschanzt, während die Familie zu Mittag aß,
und selbst als Sam verhaftet wurde, war sie nicht

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