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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Kräfte
sagen, er kann so nicht gebaut werden«, erwiderte Philemon trotzig.
    »Erfahrene
Kräfte?«, wiederholte Merthin spöttisch. »Wer in Kingsbridge hat denn
Erfahrung? Wer hat hier denn schon eine Brücke gebaut? Wer hat mit den großen
Architekten von Florenz gearbeitet? Wer hat Rom gesehen, Avignon, Paris, Rouen?
Unser Harold hier ganz gewiss nicht. Ich will Euch nicht zu nahe treten,
Harold, aber Ihr seid nicht einmal bis London gekommen.«
    Harold entgegnete:
»Ich bin nicht der Einzige, der es für unmöglich hält, ohne Schalung einen
achteckigen Turm zu bauen.«
    Merthin hätte
beinahe etwas Sarkastisches erwidert, aber er zügelte sich, denn er begriff,
dass Philemon mehr in der Hand haben musste. Der Prior ging diesen Kampf mit
Vorbedacht ein. Folglich musste er stärkere Waffen besitzen als die bloße Meinung
eines Harold Mason. Vermutlich hatte er sich Rückhalt bei einigen Ratsmitgliedern
verschafft — nur wie? Wenn andere Baumeister bereit waren auszusagen, dass
Merthins Turmbau unmöglich wäre, musste ihnen ein Anreiz geboten worden sein.
Wahrscheinlich erhielten sie Bauaufträge. »Um was geht es?«, wandte er sich an
Philemon.
    »Was wollt Ihr
bauen?«
    »Ich weiß nicht,
was Ihr meint«, brauste Philemon auf.
    »Ihr verfolgt ein
anderes Vorhaben und habt Harold und seinen Freunden einen Teil davon
angeboten. Was für ein Gebäude soll das sein?«
    »Ihr wisst ja gar
nicht, wovon Ihr redet.« »Einen größeren Palast für Euch? Ein neues
Kapitelhaus? Ein Hospital kann es nicht sein, wir haben bereits drei. Kommt
schon, Ihr könnt es mir ruhig sagen. Es sei denn, Ihr schämt Euch dafür.«
Philemon fühlte sich zu einer Antwort bemüßigt. »Das Mönchskloster möchte eine
Marienkapelle errichten.« »Aha.« Die Verehrung der Heiligen Jungfrau erfreute
sich zunehmender Beliebtheit. Die Kirchenhierarchie begrüßte die Entwicklung,
weil die Welle der Frömmigkeit, die mit der Marienverehrung einherging, ein
Gleichgewicht zu der Skepsis und der Ketzerei bildete, die seit dem Schwarzen
Tod die Gemeinden befallen hatte. Zahllose Kathedralen und Kirchen wurden durch
eine eigene kleine Kapelle am Ostende — dem heiligsten Teil des Gotteshauses —
ergänzt, die der Muttergottes geweiht war. Merthin gefiel diese
architektonische Lösung nicht, denn an den meisten Kirchen wirkte eine
Marienkapelle wie angestückelt, was sie im Grunde auch war.
    Was veranlasste
Philemon zu dem Bau? Er versuchte stets, sich bei jemandem verdient zu machen.
Mit einer Marienkapelle für Kingsbridge wollte er sich ohne Zweifel beim
konservativen älteren Klerus einschmeicheln.
    Zum zweiten Mal
bewegte sich Philemon in diese Richtung. Am Ostersonntag hatte er von der
Kanzel der Kathedrale die Leichensektion verdammt. Merthin begriff, dass
Philemon eine Kampagne führte. Die Frage war nur, mit welchem Ziel?
    Merthin beschloss,
nichts weiter zu unternehmen, bis er herausgefunden hatte, was der Prior
plante. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Dach und begab sich auf der
Abfolge von Treppenhäusern und Leitern zum Boden.
    Zur Mittagsstunde war
Merthin zu Hause, und wenige Minuten später trat Caris vom Hospital kommend
ein. »Bruder Thomas geht es schlechter«, sagte er zu ihr. »Können wir denn
nicht irgendetwas für ihn tun?«
    Sie schüttelte den
Kopf. »Gegen Senilität gibt es kein Heilmittel.« »Er hat mir heute erzählt, das
südliche Seitenschiff sei eingestürzt, als wäre es gestern geschehen.« »Das ist
typisch. Er erinnert sich an die ferne Vergangenheit, aber er weiß nicht mehr,
was heute vorgeht. Armer Thomas. Er wird vermutlich recht schnell verfallen.
Aber wenigstens lebt er an einem vertrauten Ort. Klöster verändern sich im
Laufe der Jahrzehnte nicht sehr. Sein Tagesablauf ist wohl der gleiche wie
immer. Das tut ihm gut.«
    Als sie sich zu
Hammelbraten mit Lauch und Minze setzten, erklärte Merthin die Entwicklungen
des Morgens. Beide kämpften sie seit Jahrzehnten gegen die Prioren von
Kingsbridge: erst Anthony, dann Godwyn und nun Philemon. Sie hatten gedacht,
die Verleihung der Stadtrechte würde dem ständigen Gerangel ein Ende machen.
Zwar war die Lage dadurch besser geworden, doch anscheinend hatte Philemon noch
immer nicht aufgegeben.
    »Ich mache mir
eigentlich keine Gedanken über den Turm«, sagte Merthin. »Bischof Henri wird
Philemon überstimmen und befehlen, dass der Bau wieder aufgenommen wird, sobald
er davon hört.
    Henri

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