Die Tore der Welt
Tadel
anzublicken und ihm mit dem Handrücken auf die Brust zu schlagen, was wie ein
Hieb aussah, aber in Wirklichkeit eine Liebkosung darstellte.
Wie auch immer,
wenigstens war Davey körperlich gesund und in Sicherheit. Um Sam machte sich
Gwenda größere Sorgen, denn er wohnte jetzt bei Graf Ralph in der Burg und
lernte das Kämpfen. In der Kirche betete sie, dass er keinen Unfall bei der
Jagd erlitt, beim Üben mit dem Schwert oder dem Kampf in einem Turnier.
Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie ihn jeden Tag gesehen, und jetzt war er
plötzlich nicht mehr da. Das ist für jede Frau schwer, dachte sie. Da liebt man
seinen Kleinen von ganzem Herzen und mit ganzer Seele, und eines Tages geht er
einfach fort.
Mehrere Wochen lang
hielt sie nach einem Vorwand Ausschau, nach Earlscastle zu reisen und nach Sam
zu sehen. Dann hörte sie, dass die Pest dort zugeschlagen hatte, und das
brachte sie zu einem Entschluss. Sie würde gehen, ehe die Ernte begann. Wulfric
sollte sie nicht begleiten: Er hatte auf dem Land zu viel zu tun. Sie fürchtete
sich nicht, allein zu reisen. »Zu arm, um ausgeraubt, und zu alt, um geschändet
zu werden«, scherzte sie. In Wahrheit war sie für beides zu wehrhaft. Und sie
führte ein langes Messer bei sich.
An einem heißen
Julitag überquerte sie die Zugbrücke nach Earlscastle. Auf den Zinnen des
Torhauses stand ein Rabe wie ein Wächter, und seine glänzenden schwarzen Federn
schimmerten in der Sonne. Er krächzte sie warnend an. Es klang wie: »Geh! Geh!«
Sie war der Pest natürlich schon einmal entgangen, doch das konnte Glück
gewesen sein; indem sie hierher kam, riskierte sie ihr Leben.
Im unteren Zwinger
sah es aus wie immer, auch wenn es ein wenig still war. Neben dem Backhaus
entlud ein Holzfäller einen Wagen voll Brennholz, und ein Stallknecht sattelte
vor dem Stall ein staubiges Pferd ab, aber davon abgesehen ging es nicht sehr betriebsam
zu. Gwenda bemerkte eine kleine Gruppe von Männern und Frauen vor dem
Westportal der kleinen Kirche und näherte sich über die gestampfte Erde, um zu
sehen, was dort vorging. »Drinnen sind Pestopfer«, beantwortete eine Magd ihre
Frage.
Gwenda ging durch
die Tür und spürte Furcht wie einen kalten Klumpen in ihrem Herzen. Zehn oder
zwölf Strohsäcke waren auf dem Boden angeordnet, sodass die darauf Liegenden
den Altar sehen konnten, ganz wie in einem Hospital. Ungefähr die Hälfte der
Kranken waren Kinder, drei der Erwachsenen waren Männer. Angstvoll musterte
Gwenda ihre Gesichter.
Sam war nicht unter
ihnen.
Sie kniete nieder
und sprach ein Dankgebet.
Vor der Kirche
sprach sie die Magd an, mit der sie schon geredet hatte. »Ich suche Sam aus
Wigleigh«, sagte sie. »Er ist ein neuer Knappe.«
Die Frau wies auf
die Brücke zum inneren Zwinger. »Versucht es im Wohnturm.«
Gwenda nahm den
Weg, der ihr gezeigt worden war. Der Posten an der Brücke beachtete sie nicht.
Sie stieg die Stufen zum Wohnturm hoch.
In der großen Halle
war es kühl und dunkel. Ein Hund schlief auf den kalten Steinen vor dem Kamin.
An den Wänden standen Bänke, am anderen Ende des Saales zwei große Sessel mit
Armlehnen. Gwenda bemerkte, dass es keine Kissen gab, keine gepolsterten Sitze
und keine Wandbehänge. Sie vermutete, dass Lady Philippa hier nur wenig Zeit
verbrachte und sich um die Einrichtung nicht kümmerte.
Sam saß mit drei jüngeren
Burschen an einem Fenster. Die Teile einer Rüstung lagen vor ihnen auf dem
Boden ausgelegt, vom Visier bis zu den Beinschienen geordnet. Jeder der jungen
Männer reinigte ein Teil. Sam rieb den Brustpanzer mit einem glatten Kiesel ab,
um ihn von Rost zu befreien.
Gwenda blieb einen
Moment lang stehen und betrachtete ihn. Er trug neue Kleidung im Rot und
Schwarz des Grafen von Shiring. Die Farben bekamen seinem gut aussehenden
dunklen Gesicht. Er schien sich wohlzufühlen und sprach zwanglos mit den
anderen, während sie arbeiteten. Er wirkte gesund und gut genährt. Darauf hatte
Gwenda gehofft, doch zugleich durchfuhr sie ein Stich der Enttäuschung, dass er
ohne sie so gut zurechtkam.
Als er aufblickte,
sah er sie. Auf sein Gesicht trat erst Überraschung, dann Freude und
schließlich Heiterkeit. »Jungs«, sagte er, »ich bin der Älteste von euch, und
ihr glaubt vielleicht, ich könnte allein auf mich aufpassen, aber es ist nicht
so. Meine Mutter folgt mir auf Schritt und Tritt und vergewissert sich, dass es
mir gut geht.«
Sie sahen sie an
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