Die Tore des Himmels
nicht davon abzubringen. »Und was ist, wenn ich nicht mit ihm arbeite?«, fragt er patzig. »Wer zahlt dann für unser Kellerloch? Und womit stopfen wir den Kleinen die Mäuler? Du bringst doch seit Wochen kaum mehr was heim!«
Es stimmt ja. Und das Schlimmste ist, dass Mutter und Irmel und das Hannolein nicht mehr aufhören können zu husten. »Die sterben alle bald am Lungenfluss«, hab ich letzten Sonntag nach der Messe die Korbflechters-Hilde sagen hören. Mir hat es gleich den Hals zugeschnürt. Es stimmt. Die Mutter krümmt sich beim Husten ganz schlimm und ist so schwach, dass sie sich immer wieder hinlegen muss. Das Hannolein hat dunkle Ringe unter den Augen und ist so dürr, dass man sämtliche Rippen sieht. Und das Irmel kriegt nachts vor Husten manchmal so wenig Luft, dass es beim Einatmen pfeift. »Wir müssen da raus«, beschwöre ich den Michel. »Irgendwie!«
Michel zuckt die Schultern. »Lass dir doch was einfallen«, knurrt er. »Ich tu schon mein Bestes.«
Manchmal kommt’s mir vor, als sei er der Ältere, und nicht ich. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn zuletzt lachen gesehen hab.
Und dann kommt er heim, es ist der Tag vor dem ersten Advent, knotet sein Taschentuch auf und schüttet einen ganzen Schwall Münzen auf den Tisch. Silberne Halbpfennige, Kupfergeld, Viertelstücke, es ist nicht zu glauben! Ich hab noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Und da, eine kleine, ganz abgegriffene Münze mit einem Reiter drauf. Das gibt’s doch nicht, Himmel, das muss ein Gulden sein! Ein ganzer Gulden! Mutter muss sich setzen. »Wo hast du das her?«, fragt sie mit schwacher Stimme und kriegt gleich darauf einen Hustenanfall. »Wie viel ist es?«, frage ich und fange an, die Münzen zu sortieren.
»Keine Ahnung«, sagt Michel, »kann ich vielleicht zählen?«
Ich lege alle Pfennige auf eine Seite und komme auf drei mal zehn. Den Rest kann ich nicht zählen. Mutter lacht und weint und schlägt immer wieder die Hände zusammen, und die Kleinen hüpfen wie wild auf dem nassen Matschboden herum. Ratz bellt und winselt und freut sich, obwohl er gar nicht weiß, was los ist.
»Wo hast du das her?«, frage ich irgendwann auch.
»Ich hab’s gefunden«, sagt Michel, und ich weiß, dass er lügt.
Eine Woche später ziehen wir aus dem Kellerloch aus. Lutprant ist zwar grantig, aber er sieht ein, dass wir sonst alle irgendwann am Husten krepieren. Wir haben lang gesucht; es war schwer, was zu finden. Die Leute haben uns alle nicht haben wollen; man kennt uns ja und weiß, dass wir vom Almosen leben. Und wir konnten ja schlecht jemandem sagen, dass wir plötzlich reich waren! Der Einzige, der uns dann genommen hat, war unser alter Wirt vom »Wilden Mann«, und auch nur, weil Mutter ihm am Ende den Gulden gezeigt hat. Er hat sie mit ganz durchdringendem Blick angeschaut und dann gesagt, es ist ihm gleich, woher sie das Geld hat, sie soll’s ihm geben und es reicht für ein Jahr Miete. Vermutlich hat er uns damit übers Ohr gehauen, aber wir wissen einfach nicht, wie viele Pfennige ein Gulden sind und was man dafür alles kriegen könnte. Wir haben keine Wahl.
Jetzt leben wir also wieder im Schweinestall. Himmlisch trocken ist’s da, und wir sind zum ersten Mal im Leben richtig glücklich. »Das restliche Geld wird versteckt«, sagt Mutter, »und nur im Notfall hergenommen. Sonst fällt’s auf. Leben tun wir weiter vom Almosen und von dem, was sonst reinkommt, das muss reichen.«
Trotzdem kauft Michel der Ida ihr allererstes Paar Schuhe. Wir sagen einfach, sie hat sie von den Nonnen geschenkt bekommen. Hanno kriegt eine Hose und einen Gürtel, den kann er jetzt nehmen anstatt des Stricks, der ständig aufgeht. Das Irmel bekommt eine neue Decke für die Nacht, weil ihre von den Motten zerfressen und so stockig ist, dass es stinkt. Mutter wünscht sich eine Brunzkachel, damit sie nachts nicht mehr ins Freie muss. Und ich und Michel leisten uns zwei ordentliche Messer, mit beinernem Griff und schön scharf geschliffenen Klingen. Die gehen durch wie Butter beim Beutelschneiden auf dem Markt. Und wir kaufen Medizin gegen den Husten.
Hei, noch nie im Leben ist es uns so gut gegangen! Keinen Hunger mehr haben, das ist wie im Paradies.
Drei Wochen später finden Bauernkinder beim Spielen einen toten Mann mitten in einem dichten Dornengebüsch, ganz nah bei der Straße nach Gotha. Der Kerl ist noch nicht richtig verwest, weil es jede Nacht gefroren hat. Kleider hat er keine mehr an, und auch
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