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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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am nächsten Morgen vom Turm blasen zu lassen und so das Volk zusammenzurufen.
     
    Der kleine Marktplatz war brechend voll. Alle waren sie gekommen, Jung und Alt, Mann, Weib und Kind. Vor dem Kirchlein hatte der Vogt für den Prediger ein kleines hölzernes Podest aufstellen lassen, daneben ein Tischchen, auf dem der Opferstock seinen Platz fand. Die Leute waren neugierig und aufgeregt; es kam weiß Gott nicht alle Tage vor, dass ein Fremder zu ihnen sprechen wollte. Nun sahen sie, wie ein schmächtiger rothaariger Mann das Podest bestieg, vielleicht vierzig oder fünfzig Jahre alt, gekleidet in eine raue schwarze Kutte. Er war weder gutaussehend noch hässlich, eher ein Mensch, der eigentlich kaum auffiel. Die rötlichen Locken trug er über den Ohren getrimmt, auf der großflächigen Tonsur zeigten sich ein paar Flecken und Sommersprossen. In sein Gesicht hatten sich tiefe Furchen eingegraben, seine Miene war ernst, und wenn man genau hinsah, lag ein Zug von Härte und Verachtung darin. Zunächst stand der Prediger einfach nur da, die schmalen Lippen fest zusammengepresst, und musterte mit seinen klaren hellblauen Augen die Menschenmenge. Die Leute waren unruhig und redeten alle durcheinander, aber dann geschah etwas Ungewöhnliches. Der Rothaarige hob die Hand und sah jeden einzelnen Zuhörer an, einen nach dem anderen. Und wer seinem stechenden Blick begegnete, wurde augenblicklich stumm und still; niemand konnte sich der unerbittlichen Autorität dieses Mannes entziehen. Es dauerte kein Vaterunser lang, bis alles schweigend stand und wartete.
    Der Prediger ließ die Hand langsam sinken. Und dann begann er zu sprechen.
    »Meine Brüder! Getrieben von den Nöten der Zeit, hat mich Innozenz, der nach der Gnade Gottes die päpstliche Krone trägt, oberster Priester der ganzen Welt, hierher zu euch gesandt, der ihr die Kinder Gottes seid. Ich überbringe euch seinen Segen und mit diesem Segen auch seine Botschaft.« Mit einer ausladenden Bewegung schlug der Prediger das Zeichen des Kreuzes über der Menge. Seine Hand war weiß und knochig. Schon jetzt, nach den ersten beiden Sätzen, hingen die Leute wie gebannt an seinen Lippen.
    »Höret, Christen, dass die heilige Stadt Jerusalem und das Grab des Herrn immer noch in der Hand der Heiden sich befinden. Jerusalem, der Mittelpunkt der Welt, das Heilige Land, fruchtbarstes aller Länder, ein Paradies der Wonne! Der Erlöser der Menschheit hat es durch seine Ankunft verherrlicht, durch seine Anwesenheit geschmückt, durch sein Leiden geweiht, durch sein Sterben erlöst. Die Königsstadt, erhaben und wunderbar, wird von ihren Feinden gefangen gehalten und von denen versklavt, die Gott nicht kennen. Sie erbittet und ersehnt Befreiung, sie erfleht unablässig eure Hilfe. Die Heiden spucken auf den Boden, den Jesus betreten hat, sie lästern der Dreifaltigkeit mit Widerlichkeiten, sie schlagen ihr Wasser auf dem Heiligen Grab ab und lassen ihre Köter darauf kopulieren. Weh uns, die wir in unsern Häusern sitzen, in unseren Betten liegen bleiben, während der heiligste Ort der Christenheit stündlich ärger entweiht wird! Ich frage euch: Wollt ihr dieser Schande auch nur einen Tag länger zusehen?« Seine Stimme war immer lauter geworden, der letzte Satz hallte wie Donner über den Platz.
    »Nein!«, schrie die Menge.
    »Wollt ihr die Ungläubigen das Heilige Grab weiter schänden lassen?«
    »Nein!«
    »Wollt ihr warten, bis die Elenden die Gebeine des Herrn aus der Erde reißen und den Wölfen zum Fraß vorwerfen?«
    »Nein!« Ein paar Frauen begannen zu schluchzen.
    »Ja, so ruft ihr!«, fuhr der Prediger fort. Er hielt inne und ließ seinen flammenden Blick über die Menge schweifen. Jedes Wort, jede Geste von ihm hatte die Menschen in seinen Bann gezwungen. Viele weinten, manche zitterten vor Wut, andere waren erschüttert auf die Knie gesunken. Sie warteten darauf, dass er seine Rede fortsetzte, begierig, ihm noch mehr zu verfallen. Und der Mann auf dem Podest sprach weiter, seine Sätze fielen wie Hammerschläge, klangen wie Donnerhall.
    »Aber was tut ihr, tapfere Männer? Was tut ihr, Diener des Kreuzes? Noch überlasst ihr das Heiligtum Jerusalem den Hunden, die Perlen den Säuen! Noch hat euer Schwert den Heidenunrat nicht hinausgeworfen aus der Krone aller Städte! Der Böse sieht das und lacht euch seinen Triumph ins Gesicht! Er rührt die Gefäße seiner Bosheit und will jenes Allerheiligste für immer gewinnen. Das wäre dann für alle künftigen Zeiten ein

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